Auch die Seele kämpft gegen den Krebs

Coverstory
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21051
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):16-18

Publiziert am 04.10.2022

PsychoonkologieEine Krebserkrankung ist eine psychische Belastung. Es sollte deshalb selbstverständlich sein, bei Bedarf psychoonkologische Betreuung in Anspruch nehmen zu können – und Patientinnen und Patienten auf solche Angebote hinzuweisen. Doch das geschieht noch zu selten.
Gebärmutterhalskrebs. Nachdem Nicole Cornu im Frühling 2021 die Diagnose erhalten hatte, folgte ein dichter Therapieplan mit Operation und anschliessender Radiochemotherapie. Dabei wurde sie auch über die Möglichkeit informiert, eine psychoonkologische Gesprächstherapie am Spital zu besuchen. «Ich hatte allerdings die Zeit und Kraft damals nicht, noch mehr Termine wahrzunehmen», blickt sie zurück. Zudem sei sie von ihrem sozialen Umfeld gut unterstützt worden.
Später realisierte sie, dass sie durchaus psychoonkologische Begleitung hatte – und froh war darum. Zwar nicht im Rahmen einer Therapie, aber sowohl ihre Onkologin als auch ihre Cancer Care Nurse an der Frauenklinik hatten psychoonkologische Weiterbildungen besucht und liessen dieses Wissen einfliessen.
Neben der psychoonkologischen Therapie durch Therapeutinnen und Therapeuten aus Psychiatrie und Psychotherapie kommt dieser psychoonkologischen Beratung durch Fachpersonen etwa aus Medizin, Pflege und Sozialarbeit eine wichtige Rolle zu. Je nach Schweregrad der Belastung ist eher eine Therapie oder Beratung angebracht. Bei beidem geht es darum, Krebsbetroffene dabei zu unterstützen, ihre Ressourcen zu stärken, Strategien zur Bewältigung der Krankheit zu entwickeln und ihre Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern. Nicht zuletzt kann die Psychoonkologie auch eine Hilfe sein in palliativen Situationen.

Manchmal ist es Glück

In ihrem Bekanntenkreis hat Nicole Cornu festgestellt, dass nicht alle Krebsbetroffenen so wie sie aktiv auf psychoonkologische Angebote hingewiesen wurden. Diese Erfahrung macht auch Ruedi Schweizer. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie betreut an den Spitälern Zollikerberg und Männedorf unter anderem Krebsbetroffene. Gleichzeitig ist er Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoonkologie (SGPO). «Es ist noch nicht überall Standard, dass Krebspatientinnen und -patienten auf psychoonkologische Angebote hingewiesen werden. Das wäre aber wichtig, denn Studien zeigen, dass für 20 bis 30 Prozent der Betroffenen eine solche Begleitung sinnvoll wäre», sagt Schweizer. Manche Krebsbetroffenen haben eigentliche psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, andere behandlungsbedürftige psychische Probleme wie Anpassungsstörungen oder Belastungsreaktionen.

Graben zwischen Stadt und Land

Wie viele Krebsbetroffene effektiv psychoonkologische Hilfe in Anspruch nehmen, dazu gibt es keine Zahlen. Es gibt aber Hinweise auf eine gewisse Unterversorgung. So stellte der erste MSD-Krebsversorgungsmonitor für die Schweiz im Mai 2022 zwar fest, dass die Schweizer Bevölkerung die Krebsversorgung grundsätzlich für gut befindet [1]. Handlungsbedarf ortete die Studie aber in der Krebsprävention, Frühdiagnose und der psychologischen Betreuung der Betroffenen und ihrer Angehörigen.
Psychoonkologe Ruedi Schweizer sieht zwei Hauptpunkte, die es zu verbessern gilt: Erstens gebe es in der Schweiz wie in anderen Ländern kein flächendeckendes Angebot an Psychoonkologie. Während Zentrumsspitäler oft über entsprechende Fachpersonen verfügten, fehlten diese nicht selten in ländlichen Spitälern und Regionen. Zudem bestünden Lücken bei der Finanzierung. So seien die Tarife für psychoonkologische Psychotherapie nicht kostendeckend, und an spezifischen Tarifen für die Beratung fehle es gänzlich.

Das Leiden der Angehörigen

Die SGPO hat in ihren Leitlinien 2014 das klare Ziel formuliert: Allen in der Schweiz lebenden Menschen mit einer Krebserkrankung sowie deren Angehörigen soll ein professionelles und bedarfsgerechtes Angebot an psychosozialer Betreuung zur Verfügung stehen.
Die Erwähnung der Angehörigen ist dabei zentral. Etwa die Hälfte seiner Patientinnen und Patienten komme in Begleitung von Partnerin oder Partner zum Gespräch, sagt Psychoonkologe Ruedi Schweizer. Dies sei umso wichtiger, weil Befragungen zeigten, dass die Angehörigen oft sogar stärker von Ängsten im Zusammenhang mit der Krebserkrankung belastet seien als die Betroffenen selber.
«Studien zeigen, dass für 20 bis 30 Prozent der Betroffenen eine psychoonkologische Begleitung sinnvoll wäre», sagt Psychiater Ruedi Schweizer.
© Spital Zollikerberg

Steigende Zahl Cancer Survivors

Wichtig ist aus der Sicht von Schweizer zudem, das psychische Befinden nicht nur einmal, sondern im Laufe der Behandlung regelmässig anzusprechen. Dank besserer Therapien werde Krebs immer öfter zu einer chronischen Krankheit und die Zahl der Cancer Survivors steige. Diese leben nach der akuten Behandlungsphase vielleicht noch Jahrzehnte – begleitet von Fragen wie: Bin ich noch Patient oder gesund? Wird der Krebs zurückkommen? Wie kann ich mich sozial und beruflich wieder integrieren? «Gerade in der Phase der Rehabilitation und bei Cancer Survivors sollte der psychoonkologischen Versorgung noch mehr Beachtung geschenkt werden», so Schweizer.
Dass die Psychoonkologie an Bedeutung zunimmt, ist auch die Erfahrung der Krebsliga Schweiz. Dies zeige sich im steigenden Interesse an Weiterbildung (vgl. Kasten) wie auch am Beratungsbedarf. «Wichtig ist, die Psychoonkologie weiter zu professionalisieren und auch die entsprechende Forschung zu stärken», sagt Stefanie de Borba, Mediensprecherin der Krebsliga Schweiz. Auch die Krebsliga stellt einen ungedeckten Bedarf an psychoonkologischer Therapie und Begleitung insbesondere abseits der Zentrumsspitäler fest. Insgesamt müssten mehr entsprechende Stellen geschaffen werden – und in die Teams der onkologischen Behandlung eingebunden sein.
Mehr Integration der Psychoonkologie in die Behandlungsteams wünscht sich auch Ruedi Schweizer. Und: «Ganz wichtig wäre, dass sich Hausärztinnen und Hausärzte mit uns vernetzen und das psychoonkologische Angebot in ihrer Region kennen.»

Verschobene Ziellinie

Auch Nicole Cornu beschäftigt als «Cancer Survivor» das Thema Krebs und seine Auswirkungen weiter. Der Tumor ist zwar nicht mehr nachweisbar. Aber die Entfernung der Lymphknoten verursacht Lymphödeme und macht sie infektionsanfällig: «Es ist, als ob sich nach eineinhalb Jahren Therapiemarathon plötzlich beim Endspurt die Ziellinie verschiebt. Das ist heftig.» Deshalb will sie weitere psychoonkologische Unterstützung in Anspruch nehmen. Gleichzeitig macht sie ihre Erfahrungen als Krebsbetroffene bewusst anderen Menschen zugänglich, etwa über soziale Medien. «Als ich die Diagnose erhielt, kannte ich keine einzige Mitbetroffene, mit der ich mich über Gebärmutterhalskrebs hätte austauschen können. Umso mehr will ich meine Erfahrung teilen, um für andere Betroffene bei Bedarf Ansprechperson zu sein.»
Ein Anliegen, das Psychoonkologe Ruedi Schweizer nur unterstützen kann. «Mit Selbsthilfegruppen und Peers, die ihre Erfahrungen in Blogs und auf YouTube öffentlich machen, ist in den vergangenen Jahren eine kreative Bewegung entstanden, die andere Patientinnen und Patienten unterstützt. Das ist sehr wertvoll, denn niemand ist mehr Experte und Expertin als die Betroffenen selber.»

CAS Psychoonkologie

Das Universitätsspital Basel bietet gemeinsam mit der Krebsliga Schweiz einen interdisziplinären CAS in Psychoonkologie (Certificate of Advanced Studies) an. Es ist das einzige umfassende Weiterbildungsangebot in Psychoonkologie in der Schweiz und richtet sich insbesondere an Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich – auch an Ärztinnen und Ärzte. Ab Januar 2023 bieten auch Universität Lausanne/CHUV und Krebsliga einen CAS Psychoonkologie an. Mehr Infos: www.krebsliga.ch/beratung-unterstuetzung/fachpersonen/weiterbildungen/psychoonkologie/certificate-of-advanced-studies-in-psychoonkologie

Die Grenzen der Psychoonkologie

Wer seine Gefühle nicht ausdrücken kann, wird mit Magenkrebs enden: Solche Vorstellungen einer «Krebspersönlichkeit» wurden in den 1970/80er-Jahren diskutiert. Psychoonkologe Ruedi Schweizer sagt dazu: «Inzwischen hat die Forschung klar gezeigt: Es gibt keine Persönlichkeitsstruktur, die Krebs erzeugt oder fördert.» Eine psychoonkologische Therapie könne entsprechend auch nicht Krebs heilen, denn Krebs habe somatische Ursachen: «Depressive Krebspatienten haben keine geringere Überlebenschance als positiv eingestellte.» Was die Psychoonkologie aber zu leisten vermöge: «Sie kann die Lebensqualität und beispielsweise die Adhärenz und Verträglichkeit einer Chemotherapie verbessern. Hoffnungsvolle Patientinnen und Patienten haben weniger Nebenwirkungen einer Chemotherapie, wie Studien zeigen», so Ruedi Schweizer.
Nicole Cornu macht ihre Erfahrungen als Krebsbetroffene bewusst anderen zugänglich, etwa über soziale Medien.
© Nicole Cornu
1 www.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2022/05/213064_bericht_msd_krebsversorgungsmonitor_def_v4.pdf
KastenPsychoonkologische Angebote: www.krebsliga.ch (Suchbegriff LAPOS); daneben bietet die Krebsliga u.a. ein Krebstelefon sowie Beratungs- und Informationszentren
Schweizerische Gesellschaft für Psychoonkologie: https://psychoonkologie.ch
Selbsthilfegruppen: www.selbsthilfeschweiz.ch
Lymphödem Vereinigung Schweiz: http://www.lv-schweiz.ch/