Was auf uns zukommt

Hintergrund
Ausgabe
2022/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21052
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(37):16-18

Publiziert am 13.09.2022

COVID-19-Herbst In der kalten Jahreszeit steigt erfahrungsgemäss die Zahl der COVID-19-Fälle. Worauf sich Ärztinnen und Ärzte in diesem Herbst und Winter einstellen müssen und für wen eine Auffrischungsimpfung sinnvoll ist.
medical mask hangs against the background of blurred autumn foliage
Die meisten Risikopatientinnen und Risikopatienten sind mindestens zweimal geimpft, wodurch mit weniger schweren Verläufen zu rechnen ist.
© Andrey Metelev / Dreamstime
Während man in Deutschland im Oktober bereits neue schärfere Corona-Regeln einführt, ist man in der Schweiz gemächlicher unterwegs. Am 1. April wurden die landesweiten COVID-19-Einschränkungen und Verbote aufgehoben. Seither ist es den Kantonen überlassen, gegebenenfalls Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen.

Hoffen auf einen normalen Winter

Beim Verband der aargauischen Spitäler, Kliniken, Pflege- und Spitex-Organisationen (Vaka) zeigt man sich zuversichtlich. «Wir hoffen, dass wir mit dem normalen Ablauf durch die Winterzeit kommen», sagt Dr. Hans Urs Schneeberger, Geschäftsführer der Vaka. «Heute stellt sich die Situation ganz anders dar als noch vor einem Jahr», fügt er an. «Wir haben genügend Impfstoff und viel gelernt in der Therapie von Corona-Patientinnen und -Patienten und können heute mit der gleichen Infrastruktur mehr Menschen behandeln.» Zudem seien die meisten Risikopatientinnen und Risikopatienten mindestens zweimal geimpft, wodurch mit erheblich weniger schweren Verläufen zu rechnen sei, auch wenn sich das Virus inzwischen verändert habe. Dieser Meinung ist auch Prof. Dr. Richard Neher, Biophysiker und Forschungsgruppenleiter am Biozentrum in Basel: «Nach Impfung und den vergangenen drei grossen COVID-19-Wellen (BA.1, BA.2 und BA.5) ist fast niemand mehr immunologisch naiv. Daher ist die Rate an schweren Verläufen heute sehr viel niedriger als zu Beginn der Pandemie.»

Vorsichtig optimistisch

Etwas vorsichtiger drückt sich Dr. med. Carlos Beat Quinto, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Mitglied des Zentralvorstands FMH aus: «Aktuell befinden wir uns in der normalen Lage, was einige zur Passivität verleitet.» Er weist darauf hin, dass noch Effekte durch Ferienrückkehrer und durch den Schulbeginn möglich seien. Obwohl wir uns jetzt in einer abklingenden Welle von Omikron BA.5 befänden, lasse die Impfimmunität als auch die natürliche Immunität gegen COVID-19 mit der Zeit nach. Das bestätigt Neher: «Es ist richtig, dass die aktuellen Impfstoffe nur eingeschränkt und für begrenzte Zeit vor einer Infektion schützen.» Tests würden jedoch zeigen, dass der erste und zweite Booster die Antikörper-Antwort weiter verbreitere und den Titer erhöhe. Dies schütze für einige Zeit, wenn auch nicht perfekt.

Eine neue Welle kommt mit Sicherheit

Mit einer neuen Ansteckungswelle im Herbst und Winter 2022/23 rechnet ebenso Simon Ming, Mediensprecher vom Bundesamt für Gesundheit. Das BAG beobachte die nationale und internationale epidemiologische Entwicklung und werde, insbesondere in Abhängigkeit von der Situation im Gesundheitsversorgungssystem, nötigenfalls Empfehlungen zuhanden der Kantone abgeben, erklärt Ming und betont: «Umsetzung und Verantwortlichkeit liegen aber in jedem Fall bei den Kantonen.»
Neher vom Biozentrum Basel ergänzt: «Wir wissen, dass sich im Winter Atemwegsviren besser übertragen und dass eine Infektion oder Impfung nicht dauerhaft gegen eine Reinfektion schützt. Deswegen müssen wir mit einer Winterwelle rechnen, die möglicherweise wieder viel mehr Infektionen verursacht als die typische Grippewelle.» Davon geht auch der Apotheker Dr. Rafi Hadid in Lausanne aus: «Ich erwarte die Rückkehr des Virus mit dem Beginn des Herbstes und der bevorstehenden kalten Jahreszeit.»

In der Westschweiz bereitet man sich vor

Hadid vermutet jedoch, dass es weniger Fälle geben wird: «Wir bleiben zuversichtlich, da es sich in diesem Winter offenbar um einen Übergang handelt und wir im nächsten Jahr wieder zur Normalität zurückzukehren könnten.» Er und sein Team bereiten sich darauf vor, Kundinnen und Kunden wieder zu testen und gegebenenfalls Impferinnerungen durchzuführen. Daher hat er auch geplant, sein Team für Screenings und Impfungen zu verstärken. Weiter baut er seine Dienstleistungen innerhalb der Apotheke mit neuen Angeboten aus, damit die Kundinnen und Kunden ab dem Herbst die Symptome im Zusammenhang mit COVID-19, der Grippe oder anderen zirkulierenden Winterviren schnell voneinander unterscheiden können. Auch in der Deutschschweiz sind Apotheken vorbereitet. «Wir haben in der Dr. Bähler Dropa Gruppe seit Februar 2020 eine Taskforce, die 24/7 für alle 1800 Mitarbeitenden erreichbar ist», ergänzt Johnny Schuler, Leiter Marketing bei Dropa. «Dank unserer Mitarbeiter-App können wir seit Beginn der Pandemie in Echtzeit Verhaltensmassnahmen, Schutzkonzepte, Merkblätter etc. an unsere Mitarbeitenden weiterreichen.» Die aktuelle epidemische Lage wird aufmerksam beobachtet. «Wir können bei Bedarf, respektive bei entsprechender Nachfrage auch die Impfung reaktivieren.»

BAG-Booster-Plan

Beim BAG geht man davon aus, dass die Impfempfehlungen für Herbst 2022 in den wesentlichen Punkten der Einschätzung vom Juli 2022 entsprechen. Simon Ming: «Das BAG und die eidgenössische Impfkommission EKIF werden die Impfempfehlungen für den Herbst 2022 Anfang September kommunizieren. Der Impfstart als solcher fällt voraussichtlich in den Oktober.»
Gemäss der Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte Swissmedic sind aktuell in der Schweiz folgende Impfstoffe gegen COVID-19 zugelassen und zwar: Comirnaty (Pfizer), Spikevax (Moderna) und Janssen (Johnson & Johnson). Ebenfalls zugelassen ist Spikevax bivalent Original/Omicron von Moderna und der Proteinimpfstoff von Novavax (Nuvaxovid®).

Zweifel an der Wirksamkeit

Weil sich aber auch Geimpfte infizieren und ansteckend sein können, fragen sich heute immer mehr Leute: Was bringt ein weiterer Piks in den Oberarm überhaupt noch? Bis zu einem bestimmten Grad kann Neher vom Biozentrum diese Bedenken verstehen: «Verglichen mit der Grundimmunisierung ist der Nutzen jeder weiteren Impfung natürlich geringer.»
Dennoch würden die Zahlen aus anderen Ländern ganz klar aufzeigen, dass eine zweite Booster-Dosis das Risiko für eine schwere Erkrankung senke. «Ich denke, die Situation ist vergleichbar mit der Grippe-Impfung, wo eine aktualisierte Impfung zur richtigen Zeit die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung senkt, insbesondere für Risikogruppen, wo die Folgen am gravierendsten sind.» Inzwischen gibt es mit Novavax auch einen neuartigen Impfstoff. Die Schweiz habe eine Million Dosen Nuvaxovid von Novavax bestellt, erläutert Simon Ming. «Der protein-basierte Impfstoff von Novavax kommt bei Personen zum Einsatz, die aus medizinischen Gründen nicht mit einem mRNA-Impfstoff geimpft werden können. Er steht aber auch anderen Impfwilligen zur Verfügung.» Also all jenen, die bisher bewusst auf einen mRNA-Impfstoff verzichtet haben.

Einfluss von Booster auf das Immunsystem

Über den Effekt von wiederholten Auffrischimpfungen auf das Immunsystem besteht offenbar kein eindeutiger wissenschaftlicher Konsens [1]. Prof. Dr. Andreas Thiel, Universitätsmedizin Berlin, präzisierte im SMC-Science Media Center Germany diesen Juli: «Die bisherige dritte Impfung sollte als ganz normale Impfung eines Grundschemas angesehen werden. Erst die vierte Impfung sollte man dann als ersten richtigen Booster bezeichnen.» Zudem könnten jüngere Menschen mit einer vierten Impfung wahrscheinlich ihr Long-COVID-19-Risiko nochmals senken.

Aktuelle COVID-19-Impfstoffe

Die aktuell verfügbaren Impfstoffe bieten einen ausreichenden Schutz gegen schwere Formen der Krankheit, reduzieren jedoch nur begrenzt das Infektionsrisiko und milde Manifestationen der im Umlauf befindlichen Varianten [2, 3].
Am 29.8.2022 hat Swissmedic die befristete Zulassung des bivalenten Moderna Impfstoffs «Spikevax Bivalent Original/Omicron (mRNA-1273.214)» verkündet [4], der gegen die neuen Omikron-Varianten wirksamer ist und auch gegen die ursprünglichen Varianten schützen soll. Für das BAG ist klar: «Ziel ist es, jederzeit genügend Impfstoff für alle realistischen Szenarien zur Verfügung zu stellen», betont Simon Ming.
An der Universitätsklinik München wird an neuartigen Nasenspray-Impfstoffen geforscht, die besser vor einer Infektion schützen sollen, weil der Impfstoff direkt auf die Schleimhäute in Mund und Nase aufgebracht wird [5]. Im Idealfall könnten somit nicht nur symptomatische Erkrankungen, sondern schon die Infektion verhindert werden. In einem Experiment mit Hamstern erzeugte das Nasenspray einen besseren Schutz als die mRNA-Impfung. Laut WHO werden derzeit weltweit acht Nasenspray-Impfstoffe in klinischen Studien getestet, wobei fünf Projekte sich bereits in einer Phase-III-Studie befinden (Stand August 2022) [6].

Zugang zu Tests für die Bevölkerung

Eine Strategieänderung im Kampf gegen COVID-19 hat kürzlich die Zürcher Gesundheitsdirektion beschlossen. Künftig soll nur noch medizinisches Personal Nasenabstriche entnehmen dürfen. Carlos Quinto unterstützt diese neue Regelung: «Dass ein Nasenrachenabstrich korrekt durchgeführt wird, ist entscheidend für die Sensitivität des Tests und somit für die Qualität des Testresultates.» Folglich sollte die die Leitung und Verantwortung für die Gewährleistung der Qualität bei einer erfahrenen universitären Medizinalperson mit Eintrag im Medizinalberuferegister liegen. «Diese Regelung ändert nichts für uns», betont Dropas Schuler und fügt an: «Die COVID-19-Tests führen wir mit eigenem Fachpersonal durch und Testzentren betreiben wir keine.» Hadid hingegen ist überzeugt, dass die Apotheken angesichts der Pandemie ihre Anpassungsfähigkeit, ihr Engagement und ihre Rolle bei der Entlastung des öffentlichen Gesundheitssystems bewiesen haben. Sie haben viel in die Ausbildung ihres Personals investiert und sind auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen.
Seiner Meinung nach darf das Angebot in den Apotheken nicht weiter reduziert werden: «Ich glaube nicht, dass die Patienten nach zwei Jahren verstehen werden, dass sie nicht mehr in die Apotheke gehen können, um sich testen oder impfen zu lassen.» Für Neher vom Basler Biozentrum sind Tests im kommenden Winter hauptsächlich zu diagnostischen Zwecken für symptomatische Personen sinnvoll, oder zur Risikoreduktion vor engen Zusammenkünften in Innenräumen. Seines Erachtens sollte man sich eher die Frage stellen, wie wir Übertragung von Atemwegsviren allgemein verringern können, anstatt spezifisch über Corona-Massnahmen nachzudenken.
Wie sieht die FMH dem Corona-Herbst 2022 entgegen?
Carlos Beat Quinto: Die Impfimmunität und die natürliche Immunität gegen COVID-19 lassen mit der Zeit nach. Auffrischimpfungen sind daher angezeigt, ebenso wie die Entwicklung von noch besser verträglichen und länger wirksameren Impfstoffen. Eine Fokussierung auf COVID-19 alleine greift aber zu kurz; andere Krankheiten erfordern ebenfalls unsere Aufmerksamkeit.
Liegt der Schwerpunkt auf Prävention oder Impfung, bzw. empfehlen Sie die Kombination Corona-Booster und Grippe-Schutzimpfung?
Es braucht immer mehrere Massnahmen und Möglichkeiten, um auf die individuellen Situationen von Patientinnen oder Patienten angemessen reagieren zu können. Insofern geht es bei den Impfungen und weiteren präventiven Schutzmassnahmen, zum Beispiel Masken, nicht um ein «entweder/oder», sondern um ein «sowohl/als auch». Grippeimpfung und Corona-Boosterimpfung können beide gemacht werden, sogar ohne zeitlichen Abstand, dies gemäss offiziellen Empfehlungen, die noch zum nationalen Grippeimpftag folgen werden.
Soll diese Impfung bereits vor der Verfügbarkeit beworben werden?
Nein, keinesfalls! Hier kam es bisher immer zu grossen Problemen, auch zu Beginn der COVID-19-Impfungen 2021. Über Wochen war kein oder zu wenig Impfstoff vorhanden. Der Impfstoff sollte zuerst an der Front in den Praxen, Apotheken mit Impferlaubnis, Spitälern und kantonalen Impfzentren vorhanden sein, bevor die Politik und das BAG informieren.
In der Vergangenheit kam es bei den Abrechnungen zu Unstimmigkeiten, wer welche Kosten zu tragen hat. Gibt es inzwischen Leitlinien oder Empfehlungen?
Eine Ursache der Abrechnungsprobleme liegt darin, dass die FMH nicht einbezogen wurde und schlichtweg weder sachgerechte, praktikable noch Public-Health-taugliche Lösungen vom Bund erarbeitet wurden. Dies hat zu zahlreichen Folgeproblemen geführt, die leider bis heute andauern.
Und welche Priorität messen Sie dem Thema Strommangel bei?
Wenn es wirklich zu Stromausfällen kommt, dann ist nicht nur die Kühlkette von Arzneimitteln unterbrochen, sondern sind auch die Diagnostik und Therapiemöglichkeiten massiv eingeschränkt. Zudem ist die Stromabhängigkeit eine relevante Kehrseite der Digitalisierung im Gesundheitswesen: In Spitälern und Arztpraxen werden ohne Strom keine Patienteninformationen mehr verfügbar sein. Es braucht daher konstruktive Lösungen und eine allgemein akzeptierte Priorisierung bei der Energieversorgung in der Schweiz.