Sicher von A nach B

Wissen
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21055
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):78-79

Publiziert am 07.12.2022

Neurorehabilitation Die Schlaganfall-Nachsorge weist innerhalb der Schweiz grosse Unterschiede auf – ein Problem für Betroffene und Fachpersonen. Das vom CHUV entwickelte und vom Bund finanzierte Projekt SWISSNEUROREHAB will Abhilfe schaffen.
Die neurorehabilitative Versorgung in der Schweiz ist hocheffizient, hat aber ein strukturelles Problem», fasst Prof. Arseny Sokolov, leitender Arzt der Abteilung für Neuropsychologie und Neurorehabilitation am Waadtländer Universitätsspital (CHUV), zusammen. Welches Problem? Die starke Heterogenität der Versorgungspraxis. Ein Schlüsselpunkt für die 28 ​000 Menschen, die jedes Jahr einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) oder eine Rückenmarksverletzung erleiden [1]: Für sie ist eine neurorehabilitative Betreuung von entscheidender Bedeutung, um chronische Folgeschäden zu vermeiden und sich sozial und beruflich rasch wieder einzugliedern.
Die Neurorehabilitation ist stark fragmentiert; sie vereint zahlreiche Fachgebiete sowie Spezialistinnen und Spezialisten, die auf 24 Stroke Center und Stroke Units [2] und etwa fünfzig Rehabilitationskliniken [3] verteilt sind. Sie gliedert sich in die drei unabhängig voneinander organisierten Segmente akute, stationäre und ambulante Versorgung. «Es fehlt an Kohärenz und Koordination zwischen den Betreuungsteams aus Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Neuropsychologen, Pflegefachpersonen und Ärzten. Darunter leidet die Versorgung», betont der Neurologe Arseny Sokolov.
Senior Patient and physical therapist in rehabilitation walking exercises
Nach wochenlanger Rehabilitation haben Betroffene keine weiteren Behandlungen: ein kontraproduktiver Bruch.
© Arne9001 / Dreamstime

Fehlendes Wissen zum Patientenzustand

Aus dieser Erkenntnis heraus entstand SWISSNEUROREHAB, eine Initiative der Professoren Andrea Serino, Arseny Sokolov und Philippe Ryvlin vom CHUV. Das Forschungsprojekt ist gleichzeitig eine Plattform, welche die wichtigsten Akteure aus akademischer Forschung, Klinik und Industrie in der Schweiz zusammenbringt. Ziel ist es, die Methoden der Neurorehabilitation schweizweit zu vereinheitlichen und ein neues Versorgungsmodell festzulegen.
Der wissenschaftliche Teil widmet sich der Erhebung bisher nicht vorhandener Daten zum Status quo, um verschiedene Fragen zu beantworten: Welche Kliniken wenden welche Methoden an? Welche sind in welchen Fällen am effektivsten? Die Antworten werden eine wichtige Lücke schliessen: «Aktuell kennen wir den genauen Funktionsstatus der Betroffenen vor und nach der stationären Neurorehabilitation nicht», so Prof. Andrea Serino, Koordinator des Projekts. In Zusammenarbeit mit den zehn wichtigsten Schweizer Universitätskliniken und universitären Einrichtungen für Neurorehabilitation, darunter die Klinik Lavigny und die SUVA-Kliniken, sowie drei Spitex-Anbietern soll das Forschungsteam die verschiedenen Praktiken auflisten und bewerten. So kann es auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz die erfolgreichsten ausfindig machen. Damit will man schweizweit gültige Leitlinien erarbeiten und Qualitätsstandards festlegen. Führende Anbieter von Neurotechnologie für die Rehabilitation werden die derzeit innovativsten Lösungen liefern. «So können Gesundheitsfachpersonen sich an methodischen Leitlinien orientieren und betroffenen Personen wirksame, zielgerichtete Therapieprogramme anbieten», meint Arseny Sokolov. Sobald das Versorgungsmodell ausgearbeitet ist, soll es im Rahmen eines Forschungsprojekts implementiert werden. Zu den akademischen Partnern gehören unter anderem die Universitätsspitäler Bern, Genf und Zürich, die EPFL, die ETH Zürich und die SUVA-Kliniken.

Bruchstückhafte Versorgung

Derzeit ziehen sich zahlreiche Brüche durch die Nachsorge. Während der Akutversorgung im Stroke Center, die einige Tage bis mehrere Wochen dauert, werden kognitive Aspekte oftmals kaum bewertet, so Arseny Sokolov. Wenn die betroffene Person in ein Neurorehabilitationszentrum (stationär) kommt, hat das medizinische Team nur wenige Daten über ihre kognitiven Fähigkeiten. Manche Betroffene werden in der Akutversorgung körperlich unzureichend mobilisiert. «Bei ihrer Ankunft in der Postakut-Reha hat man oft schon Zeit für die Stimulation zur Wiederherstellung der Hirnfunktionen verloren.» Besonders im ambulanten Bereich besteht noch viel Verbesserungsbedarf: Nach Wochen oder gar Monaten intensiver Neurorehabilitation kehren die Betroffenen nach Hause zurück und erhalten praktisch keine Therapiesitzungen mehr. «Die drastische Verminderung der Therapiesitzungen ist kontraproduktiv», sagt Andrea Serino. Eine wirksame Neurorehabilitation müsse so früh wie möglich nach dem Unfall beginnen und kontinuierlich und mit höchster Intensität durchgeführt werden.
Zu dieser Diskontinuität geselle sich die grosse Vielfalt von regionalen und einrichtungsspezifischen Ansätzen. Es gebe fast so viele Optionen wie spezialisierte Zentren, sagt Prof. Sokolov. «Mancherorts konfrontiert man desorientierte Patienten mit ihrer Verwirrtheit, andernorts belässt man sie in ihrer Desorientierung.» Von herkömmlichen Mitteln bis hin zu hochmodernen Technologien wie Exoskeletten oder virtueller Realität variiert das verwendete Instrumentarium erheblich. Scheinbare Unterschiede, die jedoch Analogien bergen könnten. «Ich rechne mit einigen bisher ungeahnten Gemeinsamkeiten», so Arseny Sokolov.
Ist eine Harmonisierung der Nachsorgepraktiken realistisch? Nach Ansicht von Prof. Christophe Graf, Leiter des Departements für Rehabilitation und Geriatrie der Universitätskliniken Genf (HUG), der an dem Projekt mitwirkt, ist «eine vollständige Harmonisierung zwar schwierig, die Gestaltung klinischer und evaluativer Abläufe sowie eine standardisierte Versorgung jedoch machbar und abstimmbar» auf unterschiedliche Patientenprofile.

Politik und Versicherungen überzeugen

Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts ist der Aufbau einer gemeinsamen IT-Infrastruktur, die den Fachpersonen die Nachverfolgung des Nachsorgeverlaufs ermöglicht. Von administrativen Aufgaben entlastet, sollen sie sich «verstärkt auf die zielgerichteten Interventionen konzentrieren können. Ausserdem lässt sich so die Wirksamkeit der Behandlung zuverlässig messen», erklärt Andrea Serino.
Das neue Versorgungsmodell muss effizient und wirtschaftlich tragfähig sein. «Unser Ziel ist es, Dosis und Intensität der Neurorehabilitation durch eine Optimierung des Therapieverlaufs und den Einsatz digitaler Technologien zu erhöhen. Das Projekt will den Versicherungen und der Politik aufzeigen, dass das neue Modell dank eines günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnisses den Patienten und der Gesellschaft gleichermassen zugute kommt.»
Mit einem Budget von 11,2 Millionen Franken wird das fünfjährige Projekt zu mehr als der Hälfte von Innosuisse finanziert, der Rest von den Industriepartnern. Längerfristig sollen die neuen Praktiken in Weiterbildungen dem Gesundheitspersonal vermittelt werden und sich so in der Schweiz und später auch im Ausland durchsetzen.

Viele Erwartungen an das Projekt

Gefragt nach der Relevanz des Projekts für ihre jeweilige Disziplin begrüssen Physioswiss und der ErgotherapeutInnen-Verband der Schweiz (EVS) den Willen, die Patientenbetreuung zu verbessern. Beide betonen den Mangel an angemessener Versorgung in der Rehabilitation, insbesondere im ambulanten Bereich. «Wenn dieses patientenzentrierte interprofessionelle Forschungsprojekt auch solche Aspekte berücksichtigt, erachte ich es als zukunftsweisend», sagt Mirjam Stauffer, Physioswiss-Präsidentin. Ob und wie die Ergebnisse tatsächlich in die Versorgung dieser Patientengruppen einfliessen können, bleibt ihrer Meinung nach angesichts des Kostendrucks im Gesundheitswesen jedoch abzuwarten. Claudia Roesle, Zentralvorstandsmitglied des EVS, erachtet die Schaffung einer interkantonalen Datenbank als sinnvoll. Der Fokus müsse unbedingt auf der interprofessionellen Vernetzung liegen und nicht nur auf Robotik und virtueller Realität, welche das Grundproblem nicht lösen würden.