Tagungsbericht der SAMW zur Implementierungswissenschaft

Organisationen
Ausgabe
2022/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21062
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(47):38-39

Affiliations
Freie Wissenschaftsjournalistin, texterey

Publiziert am 22.11.2022

Implementierung Nur ein geringer Teil der Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung dringt bis in die täglichen Routinen des Gesundheitswesens vor. Die Implementierungswissenschaft möchte diesen Übergang erleichtern. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) veröffentlicht einen Tagungsbericht zum Thema.
Die Schweiz investiert hohe Beträge in die medizinische Forschung. Allerdings finden bloss etwa 14 Prozent der Ergebnisse ihren Weg in wissenschaftliche Publikationen [1]. Im Schnitt dauert es gar 17 Jahre [2], bis sie in die Routine der gesundheitlichen Praxis einfliessen. In der Fachwelt ist daher von einer «undichten Forschungspipeline» die Rede, die allzu viele Ressourcen – finanzielle Mittel, Forschungsanstrengungen, Erkenntnisse – ungenutzt versickern lässt. Ein Aderlass, der auch den Patientinnen und Patienten schadet: Statistischen Auswertungen zufolge erhalten zwischen 30 und 40 Prozent der medizinisch behandelten Personen eine Therapie, deren Wirksamkeit nicht belegt ist; bis zu 25 Prozent erleiden gar eine schädliche Behandlung [3].
Wie gelangen Erkenntnisse aus der Forschung in den medizinischen Alltag? Dieser Frage ist die SAMW nachgegangen.
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Ein Netzwerk für höhere Qualität

Einer in der Fachgemeinschaft breit akzeptierten Definition zufolge umfasst die Implementierungsforschung die wissenschaftliche Untersuchung von Methoden, welche die systematische Übernahme von Forschungsergebnissen und anderen evidenzbasierten Praktiken in die alltägliche Routine fördern und damit die Wirksamkeit von Gesundheitsdienstleistungen verbessern. Eine Evaluation des Implementierungserfolgs ist mithin eingeschlossen, denn letztlich bemisst sich dieser am nachgewiesenen gesellschaftlichen Nutzen [4].
Insbesondere im angelsächsischen Raum hat sich die neue Disziplin im Lauf der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre gut etabliert. Im Oktober 2019 wurde nun mit dem Swiss Implementation Science Network (IMPACT) auch in der Schweiz ein Netzwerk gegründet, das die Implementierungswissenschaft ins Zentrum seiner Tätigkeiten stellt. Angesiedelt ist es am Institut für Pflegewissenschaften der Universität Basel. Mit einer ersten internationalen Konferenz, an die eine Serie vertiefender Meisterklassen anschloss, hat sich IMPACT der interessierten Fachgemeinschaft vorgestellt. Die SAMW nahm dies zum Anlass, das wichtige Thema auf ihre Agenda zu setzen und zur Bekanntmachung beizutragen.

Fachübergreifende Verständigung

Implementierungswissenschaft baut auf den Methoden der klinischen Forschung auf. Je nachdem, wie belastbar die Evidenz der zu implementierenden Massnahme – beispielsweise einer neuartigen oder veränderten Behandlung – ist, unterscheidet sich das Studiendesign. Im Unterschied zur klinischen Forschung, die in der Regel auf die Intervention fokussiert und Aspekte der Umsetzung vernachlässigt, richtet die Implementierungswissenschaft ihr Augenmerk auf zwei Schwerpunkte, indem sie einerseits den Implementierungspfad nachzeichnet, um die Erfolgsfaktoren der Implementierung zu verstehen, und andererseits deren Ergebnisse erfasst. Die Implementierungswissenschaft berücksichtigt also den ganzen Übergang (in Einzelschritten) zwischen der evidenzbasierten Massnahme und ihren Auswirkungen im Alltag.
Um die Lücke zu überbrücken, die zwischen der Forschung und der Anwendung ihrer Ergebnisse in der Praxis klafft, braucht es somit Fachleute, die mit den unterschiedlichen «Logiken» von Grundlagenforschung und Arbeit in der Praxis vertraut sind – mithin Forschungsteams, die Kompetenzen aus beiden Bereichen vereinen. Implementierungsforschung ist Teamarbeit schlechthin und erfordert eine gemeinsame Sprache. Zu Beginn eines implementierungswissenschaftlichen Vorhabens empfiehlt es sich, dass die Projektgruppe Einigkeit über die zentralen Begriffe herstellt.

Den Kontext kennen – und einbeziehen

Die praktische Umsetzung medizinischer Forschungsergebnisse scheitert oft an den alltäglichen Rahmenbedingungen: etwa an etablierten Gewohnheiten, organisatorischen Strukturen, dem Berufsverständnis einzelner Akteursgruppen. Ein tieferes Verständnis des Kontextes, in den eine Neuerung eingeführt werden soll, ist unerlässlich. Als Kontext gelten die charakteristischen Merkmale und Umstände, in die eine Implementierung eingebettet ist.
Die Kontextanalyse dient unter anderem dazu, die Routinen in der Praxis und das Klima einer Organisation kennenzulernen. Auch lassen sich Akteursgruppen ermitteln, die es frühzeitig einzubinden gilt. Die Kontextanalyse nimmt dabei keineswegs nur medizinische Institutionen in den Blick, sondern auch Patientinnen und Patienten und gegebenenfalls ihre Angehörigen sowie unter Umständen Krankenversicherungen und politische Entscheidungstragende.

Die richtige Wahl treffen

Die Implementierungswissenschaft greift auf eine Vielzahl von Theorien und Modellen zurück, und zwar sowohl für die Analyse des Kontextes als auch bei der Wahl einer geeigneten Implementierungsstrategie. Die infrage kommenden Strategien wiederum variieren in ihrer Komplexität, unterscheiden sich mit Blick auf ihr Zielpublikum und in ihren Wirkungsmechanismen und können auf Kontextfaktoren zielen, die auf unterschiedlicher Ebene angesiedelt sind (beispielsweise auf der persönlichen, institutionellen, gesellschaftlichen oder auch politischen Ebene).
Oft sind Strategien gefragt, die auf mehreren Ebenen beziehungsweise bei verschiedenen Akteursgruppen ansetzen: So kann es darum gehen, auf individueller Ebene das Gesundheitspersonal auszubilden, auf organisatorischer Ebene in der Klinik Lerngemeinschaften zu bilden und auf politischer Ebene Fehlanreize auszuschalten. In solchen Fällen müssen gemischte oder mehrgleisige Strategien zum Einsatz kommen, die aus mehreren – teilweise miteinander verwobenen – Einzelschrittstrategien bestehen.
Für die Wahl der geeigneten Implementierungsstrategie ist das tiefe Verständnis des Kontextes unabdingbar. Es braucht Kenntnisse über die Faktoren, die auf die Implementierung einwirken, ebenso sollten die Wirkungsmechanismen und -prozesse theoretisch untermauert sein. Nicht zuletzt ist auch den Anregungen und Vorschlägen von Betroffenen und Beteiligten Rechnung zu tragen.
In der bisherigen Implementierungsforschung sind allerdings Schwachpunkte im Umgang mit den eingesetzten Strategien zutage getreten, indem diese allzu oft mangelhaft beschrieben, uneinheitlich benannt, nicht ausreichend detailliert dargestellt und zu wenig mit den Implementierungsergebnissen («outcomes») verknüpft wurden.

Erfolgskontrolle als fester Bestandteil

Da der Erfolgsnachweis der Implementierung fester Bestandteil ihrer Definition ist, gilt es auch, frühzeitig Zielgrössen zu bestimmen, an denen sich die positiven Auswirkungen bemessen. Zu nennen sind hier beispielsweise die Durchführbarkeit der Massnahme im Alltag, ihre Akzeptanz bei allen Beteiligten beziehungsweise Betroffenen oder die Dauerhaftigkeit der Anwendung. Zudem berücksichtigt die Implementierungswissenschaft auch Veränderungen in der Qualität der Dienstleistung, etwa Effizienz, Rechtzeitigkeit und Pünktlichkeit. In der Implementierungswissenschaft stehen also andere Ergebnisse im Blickpunkt als bei der Wirksamkeitsanalyse klinischer Studien, welche beispielsweise die Sterblichkeit, die Mobilität oder Lebensqualität der Behandelten oder allenfalls die Kosten der Therapie betrachtet.
Um die zahlreichen Facetten der Implementierung zu erfassen, hat IMPACT das «Basler Heptagon» der Implementierungswissenschaft entwickelt [5]. Diese Theorie bündelt die unterschiedlichen Schlüsselgrössen, die es in implementierungswissenschaftlichen Studien zu berücksichtigen gilt, und sie diente auch dazu, die erste Einführungsveranstaltung von IMPACT und die Meisterkurse zu strukturieren. Mit dieser Veranstaltungsreihe hat das Netzwerk ein erstes Ziel erreicht, nämlich erfolgreiche Implementierungsprojekte vorzustellen und den Wissens- und Gedankenaustausch innerhalb der Fachgemeinschaft voranzutreiben.
Der Tagungsbericht kann auf der Website der SAMW heruntergeladen werden: samw.ch/berichte

Das Wichtigste in Kürze

Die SAMW hat einen Tagungsbericht zum Thema «Implementierungswissenschaft» veröffentlicht.
Die Implementierungswissenschaft zielt darauf ab, Hindernisse beim Übergang zwischen medizinischer Forschung und der Umsetzung ihrer Ergebnisse in der Praxis zu analysieren und besser zu überwinden.
Interdisziplinarität und das Einbinden breiter Akteursgruppen wie Patientinnen und Patienten, deren Angehörigen sowie Vertreter aus Politik und Krankenversicherungen sind Merkmale implementierungswissenschaftlicher Studien.
Das im 2019 gegründete und am Institut für Pflegewissenschaft verankerte Swiss Implementation Science Network (IMPACT) hat mit einer Veranstaltungsreihe im Frühjahr 2021 die Initialzündung gegeben, um die noch junge Disziplin in der Schweiz bekannt zu machen und interessierte Fachpersonen miteinander in Kontakt zu bringen.
1 Chalmers Iain, Glasziou Paul, 2009: Avoidable waste in the production and reporting of research evidence. Lancet 2009; 374: 86–89 June 15, 2009. doi: 10.1016/S0140-6736(09)60329-9
2 E. Andrews Balas, Suzanne Austin Boren, 2000: Managing Clinical Knowledge for Health Care Improvement. Yearb Med Inform. 2000;09(1):65–70. doi: http://dx.doi.org/10.1055/s-0038-1637943. PubMed.
3 McGlynn Elisabeth A. et al., 2003: The quality of health care delivered to adults in the United States. N. Engl J Med. 2003;348(26):2635–45. doi: http://dx.doi.org/10.1056/NE-JMsa022615. PubMed.
4 Eccles Martin P., Mittman Brian S., 2006: Welcome to Implementation Science. Imple-ment Sci. 2006;1(1):1. doi: http://dx.doi.org/10.1186/1748-5908-1-1.
5 De Geest Sabina et al., 2020: Powering Swiss health care for the future: implementation science to bridge «the valley of death». Swiss Med Wkly. 2020;150:w20323. doi:10.4414/smw.2020.20323