Was hat eine Zeitreise in das Jahr 1966 mit künstlicher Intelligenz zu tun?

Kommentar
Ausgabe
2022/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21072
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(38):28-29

Publiziert am 20.09.2022

Künstliche Intelligenz In der Medizin kann KI für einen definierten Zweck Vorhersagen, Empfehlungen und sogar Entscheidungen treffen. Wird dieses Potenzial genutzt, kann es das ärztliche Berufsbild verändern. Es ist Zeit, sich mit dieser Technologie auseinanderzusetzen.
Neue Technologien werden den Arztberuf verändern. Das war schon immer so, wie der Blick in die Vergangenheit zeigt.
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Wie stellen Sie sich Ihren Beruf als Ärztin oder als Arzt in 40 Jahren vor? – eine komplexe Frage, mit der sich aktuell auch das Bundesamt für Gesundheit BAG auseinandersetzt [1]. Während wir heute mit Problemen wie der drohenden ärztlichen Unterversorgung kämpfen, gibt es Tendenzen, die den Arztberuf längerfristig nachhaltig verändern dürften [2]. Beispielsweise ist ein Viertel der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte 60 Jahre und älter. Ärztinnen und Ärzte der heutigen Generation wünschen sich geregeltere Arbeitszeiten und tendenziell eine Anstellung in einer Gemeinschaftspraxis [1, 3]. Auch andere Gesundheitsberufe verändern sich, was den Wandel des ärztlichen Berufsbildes beeinflussen wird [1]. Neben diesen strukturellen Veränderungen sind zudem technologische Entwicklungen Treiber des Wandels.
Alexander Zimmer
Dr. med., Mitglied des Zentralvorstandes und Departementsverantwortlicher Digitalisierung/eHealth
Bereits im Jahr 1966 schrieb E. L. Thomas: «Der gute Arzt der Zukunft wird nicht nur die grundlegenden und traditionellen medizinischen Fähigkeiten beherrschen müssen, sondern auch viele neue Konzepte und Techniken.» Er führte aus: «[…] um auch die technische Welt der Zukunft zu verstehen, braucht er [der Arzt] fundierte Kenntnisse in den Naturwissenschaften und eine gewisse Beherrschung der Sprache der modernen Mathematik» [4].
Dies sind Worte, die auch 56 Jahre später noch gelten. Eine dieser von E. L. Thomas erwähnten «Techniken», die unsere Vorstellung vom Berufsbild der Ärztin oder des Arztes ändern dürften, ist die künstliche Intelligenz (KI).

Das Potenzial der KI

Die KI bedient sich der Sprache der modernen Mathematik. In diversen Bereichen des menschlichen Lebens kann KI für einen vom Menschen definierten Zweck Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen treffen [5]. KI verfügt somit über das Potenzial, nahezu alle Lebensbereiche grundlegend zu verändern, so auch die Medizin. Vorstellbar ist, dass uns KI-Anwendungen von unserer Entstehung bis zum Tod im Alltagsleben sowie ebenfalls in allen Belangen, die unsere Gesundheit betreffen, begleiten werden.
Dieses Potenzial hat auch der Bundesrat erkannt, weswegen er in der Strategie «Digitale Schweiz» aus dem Jahr 2018 [6] KI nicht nur als ein zentrales Thema definierte, sondern zudem eine bundesverwaltungsinterne Arbeitsgruppe zum Thema KI einsetzte. Dies mit dem Ziel, einerseits einen Überblick über neue Handlungsfelder und bereits bestehende Massnahmen zu erhalten und andererseits, um einen transparenten und verantwortungsvollen Einsatz von KI aufzugleisen. Infolgedessen wurde im Jahr 2022 vom Bund das nationale Kompetenznetzwerk für künstliche Intelligenz (CNAI) geschaffen [7]. Mit dessen Hilfe soll der Einsatz von und das Vertrauen in KI national rasch und nachhaltig gefördert werden. KI ist also nicht mehr nur eine Technologie, sondern ebenfalls von politischem Interesse. Sie ist ein Puzzleteil der digitalen Transformation, die gestaltet werden will.

Muss KI reguliert werden?

Da KI-Anwendungen weltweit entwickelt werden, stellen sich global ähnliche Grundsatzfragen zum Einsatz von KI. National und international wird beispielsweise heftig diskutiert, inwiefern und in welchen Bereichen der Einsatz von KI einer Regulierung bedarf [8]. Grund dafür ist, dass durch geltendes Recht menschliches Verhalten bzw. Fehlverhalten zwar gesteuert werden kann, in der aktuellen Gesetzgebung Maschinen aber als Hilfsmittel angesehen werden. Eines der Grundprinzipien des internationalen Rechts und auch des Schweizer Rechts ist die menschliche Freiheit in «wichtigen Fragen der Persönlichkeitsentfaltung frei und autonom zu entscheiden». Dabei muss die jeweilige Situation für den Menschen nachvollziehbar sein und es müssen für alle Menschen die grundsätzlich gleichen Bedingungen gelten [9]. Das Konzept der intelligenten Maschine, die das Potenzial hat, eigenständig (autonome) Entscheidungen zu treffen, stellt daher die bisherigen rechtlichen Kontrollmechanismen vor erhebliche Herausforderungen [9].

Das Verhältnis Mensch – Maschine

Der Einsatz von KI wirft grundlegende Fragen zum Verhältnis zwischen Mensch und Maschine auf, die das EDA in seinem Bericht «Künstliche Intelligenz und internationales Regelwerk» beschreibt [9]. In welchen Bereichen können und sollen Maschinen Aufgaben vom Menschen übernehmen? Welche Anforderungen müssen an die KI-getriebene Aufgabenerfüllung bezüglich Qualität, Transparenz, Verlässlichkeit, Sicherheit und Datenschutz gestellt werden? Wer trägt die Verantwortung für unerwünschte durch KI generierte Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen und deren Folgen? Das sind nur einige der in diesem Rahmen diskutierten Fragen [9]. Letztlich muss also die angemessene und verantwortungsvolle Aufgabenverteilung zwischen Menschen und KI-Systemen definiert werden.

Broschüre «KI im ärztlichen Alltag»

KI verfügt also nicht nur über das Potenzial, alle wesentlichen Lebensbereiche, zu denen zentral auch die Gesundheit gehört, stark zu verändern. Sie wirft auch grundlegende Fragen auf. Was bedeutet die Technologie KI nun aber spezifisch für uns als Praktizierende der Medizin?
Blicken wir noch einmal in das Jahr 1966 zurück, so äussert sich E. L. Thomas folgendermassen: «Der Arzt der Zukunft wird sein stark erweitertes Aufgabengebiet nur bewältigen können, wenn er die Werkzeuge der Zukunft einsetzt» [4]. Er prophezeite weiter, «die neuen Denkwerkzeuge, die dem Arzt zur Verfügung stehen werden, werden sehr leistungsfähig sein und das Wichtigste davon wird der Computer sein» [4].
Stellen wir uns also heute die Frage: Ist die Technologie KI für uns als Ärztinnen und Ärzte ein taugliches Werkzeug der Zukunft?
Eine mögliche Antwort liefert die Broschüre «Künstliche Intelligenz im ärztlichen Alltag» der FMH, die wir im vergangenen Jahr, breit abgestützt in einer Arbeitsgruppe mit Ihnen gemeinsam und für Sie erarbeitet haben. Sie erklärt den Begriff KI, fasst die verschiedenen, der KI zugrunde liegenden Methoden zusammen, umreisst die Nutzenerwartungen der Ärzteschaft an die KI, beschreibt den heutigen Einsatz von KI in der Medizin, deren Herausforderungen, aktuelle Ansätze zur Regulierung und skizziert den zukünftigen durch KI getriebenen Wandel des ärztlichen Berufsbildes.

Arzt-Patient-Beziehungen stärken

KI-Anwendungen sollen die Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnostik und Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten unterstützen. Deshalb enthält die Broschüre zudem einen Forderungskatalog, der die nutzenbringenden KI-Anwendungen in der Medizin ermöglichen soll. Eine der Forderungen, die übrigens sowohl von Patientenseite als auch von Ärzteseite als wichtig erachtet wird [10], ist die, dass KI-Systeme die Arzt-Patient-Beziehungen stärken und nicht ersetzen sollen. Dies ist aber nicht die einzige Forderung, die wir an die KI-Systeme stellen. Ab Seite 30 dieser Ausgabe finden Sie die weiteren Forderungen.
Ausnahmen von der dreijährigen Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversorgung. 22.431 Parlamentarische Initiative.
Hostettler s., Kraft E. Jeder vierte Arzt ist 60 Jahre alt oder älter. Schweizerische Ärztezeitung. 2022;103(13):414–419.
Thomas EL. The physician of the future. Can Med Assoc J. 1966 Apr 9;94(15):808-11. PMID: 5908727; PMCID: PMC1935401.
OECD. Artificial Intelligence in Society. www.oecd.org/publications/artificial-intelligence-in-society-eedfee77-en.htm (2019).
Kompetenznetzwerk für künstliche Intelligenz (CNAI). https://cnai.swiss/
Digital Society Initiative. Ein Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz. www.dsi.uzh.ch/de/research/strategy-lab.html (2021).
EDA. Künstliche Intelligenz und internationales Regelwerk. Bericht an den Bundesrat. 2022.