«Auch Teilzeitstellen sind vollwertig»

Interview
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21075
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):12-15

Publiziert am 04.10.2022

ArbeitsbedingungenJunge Ärztinnen und Ärzte ticken anders. Weshalb es sich für Spitäler lohnt, Teilzeitstellen anzubieten, ob die Forderungen der Nachwuchskräfte die Generationen spalten und welche Unterstützung die Jungen bekommen: Im Interview nimmt Angelo Barrile, Präsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte, Stellung.
Angelo Barrile, der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO vertritt Nachwuchsmedizinerinnen und -mediziner. Weshalb organisiert sich diese Gruppe in einem eigenen Verband?
Die vom VSAO vertretene Ärzteschaft ist grösstenteils jung, steht am Anfang ihrer Berufskarriere und ist hauptsächlich in Kliniken angestellt. Für viele von ihnen ist die ärztliche Weiterbildung eines der Hauptthemen. In der Geburtsstunde des Verbands im Jahr 1945 war das Anliegen, dass Assistenzärztinnen und -ärzte erstmals einen Minimallohn erhalten. Heute stehen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und guter Weiterbildung im Fokus.
Wie könnten bessere Arbeitsbedingungen aussehen?
Einerseits ist das Arbeitsgesetz mit seinen Regelungen zu Arbeits- und Ruhezeiten und zum Gesundheitsschutz endlich einzuhalten. Das ist schlicht Pflicht! Andererseits nehmen die jungen Fachkräfte heute vermehrt Interessen und Verantwortung ausserhalb ihrer ärztlichen Tätigkeit wahr. Daher ist es wichtig, dass die vereinbarte Arbeitszeit eingehalten wird und diese auch planbar ist.
Wie viel arbeiten denn die jungen Ärztinnen und Ärzte durchschnittlich?
Eine Umfrage des VSAO zeigt, dass über die Hälfte der jungen Ärztinnen und Ärzte gesetzeswidrig über 50 Wochenstunden arbeiten [1]. Im Durchschnitt sind es sogar 56 Stunden. Vernünftig wären 42 Stunden Dienstleistung am Patienten und vier Stunden strukturierte Weiterbildung. Das liesse auch den nötigen Raum für die Flexibilität, die im Berufsalltag gefordert ist. Nebst der Reduktion der Sollarbeitszeit wünschen sich Ärztinnen und Ärzte mehr Teilzeitstellen. Teilzeitarbeit ist jedoch immer noch mit zu vielen Karrierenachteilen verbunden.
Wie könnte die Reduktion der Arbeitszeit gelingen?
Die administrativen Aufgaben der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte müssen reduziert werden. Der VSAO hat dazu die Kampagne «Medizin statt Bürokratie» aufgegleist. Dienstpläne müssen Ruhezeiten und Erholung ermöglichen, die Weiter- und Fortbildung muss strukturiert und fest eingeplant werden. Leider fallen diese bei hohem Arbeitsaufkommen zu schnell unter den Tisch.
Aufgrund welcher Informationen definiert der VSAO seine Ziele?
Durch unsere 16 regionalen Sektionen sind wir nahe an unserer Basis. Die Delegierten der Sektionen legen die strategische Ausrichtung des Verbands jeweils in einer Vierjahresstrategie fest. Regelmässige Mitgliederbefragungen oder unsere Meldestelle zeigen ebenfalls, was unsere Mitglieder aktuell beschäftigt.
Immer mehr Ärztinnen und Ärzte wollen heute ihre berufliche Tätigkeit ihren Lebensumständen anpassen. Was kann getan werden, um Teilzeitarbeit für die Ärzteschaft auch in Kliniken verstärkt zu etablieren?
Wichtig ist es, aufzuzeigen, dass auch Teilzeitstellen vollwertig sind. Ärztinnen und Ärzte, die kein volles Pensum arbeiten und das gerne tun, bringen einem Betrieb mehr als Angestellte, die wegen ihrer Arbeitsbelastung unzufrieden sind. Teilzeit arbeitende Fachkräfte sind auch keine schlechteren Ärztinnen und Ärzte. Die Weiterbildung muss trotz geringerem Pensum stattfinden. Ein Leitfaden des VSAO sensibilisiert Arbeitgebende und Arbeitnehmende für dieses Thema [2]. Mit der Dienstplanberatung und dem Support des Projekts «Coach my Career» unterstützen wir die Betroffenen zudem direkt.
Auf welche Resonanz stossen Sie mit Ihren Forderungen bezüglich Vereinbarkeit, kürzeren Arbeitszeiten und so weiter bei älteren Ärztinnen und Ärzten? Ist das ein Thema, das die Generationen spaltet?
Es ist eine Generationenfrage, aber nicht nur. Auch bei den Älteren sehen wir mehr Akzeptanz für die Anliegen der Jungen. Bei einigen führt der Mangel an Nachwuchs zum Umdenken, oft aber geschieht es aus Überzeugung und echtem Verständnis.
Zehn Prozent der Ärztinnen und Ärzte eines Abschlussjahrgangs steigen bis zum Pensionsalter aus ihrer Praxis- oder Kliniktätigkeit aus, ein Grossteil beklagt das Arbeitspensum und die Arbeitszeiten [3]. Wo sehen Sie Möglichkeiten, diesem Abwandern im Angesicht eines Fachkräftemangels entgegenzuwirken?
Vermutlich liegt der Prozentsatz nach der Pandemie eher höher. Gute Arbeitsbedingungen und gute Weiterbildung sind zentral für die Berufszufriedenheit. Hinzu kommen die bekannten Themen wie Wertschätzung, Vereinbarkeit und Planbarkeit.
Einige junge Ärztinnen und Ärzte fordern die 42-Stunden-Woche. Sind sie auch bereit, auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten?
Heute reden wir von einer 50-Stunden-Woche für Ärztinnen und Ärzte, für die meisten anderen Berufe ist die 42-Stunden-Woche schon Normalität. Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte leisten schon jetzt mehr für ihren Lohn als laut Arbeitsgesetz vorgesehen ist. Finanziell gehören sie da nicht zu den grossen Gewinnern. Es sollte möglich sein, das Gesetz einzuhalten und die Arbeitsbedingungen auch ohne Lohneinbussen zu verbessern. Unsere Arbeitsgruppe «42h plus» befasst sich genau mit dieser Forderung und erarbeitet Vorschläge.
Angelo Barrile will, dass junge Ärztinnen und Ärzte von unnötigen Aufgaben entlastet werden.
© Nicolas Zonvi
Es herrscht Fachkräftemangel. Wie soll eine verkürzte Arbeitszeit realistisch umgesetzt werden?
Wir müssen mehr Medizinerinnen und Mediziner selbst ausbilden. Wir müssen die Ärztinnen und Ärzte im Beruf halten. Und wir müssen sie von unnötigen Aufgaben entlasten. Die letzten beiden Punkte müssen rasch angepackt und umgesetzt werden.
Wie können Kliniken vorgehen, die gerne für ihre Mitarbeitenden attraktivere Arbeitszeitmodelle anbieten wollen?
Das gehört eigentlich zu den klassischen Aufgaben jedes Arbeitgebers. Nichtsdestotrotz bietet der VSAO eine kostenlose Dienstplanberatung an. Diese läuft sehr erfolgreich in der ganzen Schweiz. Um gute Beispiele zu belohnen, verleihen wir übrigens jedes Jahr eine Spitalrose für besonders zielführende Massnahmen zur Verbesserung der Arbeits- oder Weiterbildungsbedingungen.
Welche Vorteile ergeben sich für Kliniken, wenn sie vermehrt Teilzeitstellen anbieten?
Die Nachfrage nach Teilzeitstellen ist unbestritten. Mit einem solchen Angebot kann eine Klinik mehr Personal anziehen und sich als attraktiver und innovativer Arbeitgeber positionieren. Ärztinnen und Ärzte, die im gewünschten oder notwendigen Teilzeitpensum arbeiten können, sind zufriedener und weniger unter Druck. Das macht sich in der Qualität der Arbeit bemerkbar und sie geben ihren Beruf nicht auf. Ein gutes Arbeitsklima spricht sich herum, Stellen können schneller besetzt werden.
Welche sind derzeit neben den genannten Zielen Ihres Verbands die grössten Herausforderungen für die Nachwuchsärzteschaft?
Die Ärztinnen und Ärzte arbeiten heute in einem schwierigen Umfeld. Der ständige Kostendruck auf das Gesundheitswesen schlägt direkt auf die Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen durch. In der Pandemie standen – und stehen – gerade die jungen Ärztinnen und Ärzte an vorderster Front. Ihre Weiterbildung wurde als erstes gestrichen und sie spüren den Personalmangel in der Pflege sehr direkt. Das ist sehr belastend. Gerade bei den Jungen, bei denen die Freude am Beruf oft einen höheren Stellenwert hat als die Entlohnung, fällt das doppelt ins Gewicht. Ein Thema, das die junge Ärzteschaft bewegt und wo sie auch offiziell Position beziehen und sich engagieren will, ist übrigens die Umwelt und der Klimawandel.
Und wie können Sie sie dabei unterstützen?
Im Hinblick auf die Umweltthematik hat der VSAO gemeinsam mit der Swimsa (Swiss Medical Students Association, Anm. d. Red.) erreicht, dass die FMH eine Klimastrategie verabschiedet hat. Natürlich engagieren wir uns nun auch in deren Umsetzung. Generell ist der VSAO natürlich auch Interessenvertreter in der Politik und gegenüber der Verwaltung, wir sensibilisieren und informieren in der Öffentlichkeit, lancieren Kampagnen und Projekte und leisten Präventions- und Aufklärungsarbeit.
Was bietet der Verband seinen Mitgliedern, um sie in der Einforderung von angemessenen Arbeitszeiten, bei Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Diskriminierung am Arbeitsplatz zu unterstützen?
Neben den bereits genannten Themen und Beispielen bieten wir unseren Mitgliedern auch eine ganze Reihe direkter Dienstleistungen.
Welche zum Beispiel?
Sie erhalten via unsere Sektionen vor Ort eine kostenlose Rechtsberatung in arbeitsrechtlichen Fragen. Die VSAO-Dienstplanberatung zielt direkt auf Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in einzelnen Kliniken oder Spitälern. Mit einem kostenlosen Telefoncoaching und den Angeboten von «Coach my Career» und «Remed» erhalten gerade die jungen Ärztinnen und Ärzte Support bei Fragen zur beruflichen Zukunft respektive in schwierigen Situationen. Auch unser Kongress «MEDIfuture» hilft ihnen bei der Laufbahnplanung. Dort greifen Referierende regelmässig Themen wie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben auf. Und schliesslich haben wir mit der neu geschaffenen Meldestelle auf unserer Webseite einen zusätzlichen Kanal eingerichtet, über welchen dem Verband niederschwellig Probleme mit Arbeits- und Weiterbildungsbedingungen gemeldet werden können.
Diese Fragen betreffen nicht nur die Kliniken als Arbeitgeber, sondern auch die Politik. In welcher Form nimmt der VSAO Einfluss auf gesundheitspolitische Fragen?
Auftrag und Leistung der Spitäler werden vermehrt politisch vorgegeben und es werden Entscheidungen von Personen getroffen, die die Realität nicht kennen. Es ist deshalb sicher eine unserer Aufgaben, den politischen Entscheidungsträgern die Situation und die Anliegen unserer Mitglieder darzulegen. Die Sektionen stehen dazu in engem Austausch mit den kantonalen Behörden. Der VSAO Schweiz als Dachverband ist mit den politischen Entscheidungsträgern auf eidgenössischer Ebene in Kontakt. Ich bin gleichzeitig Präsident des VSAO und Nationalrat, so haben wir eine direkte Verbindung in die Politik. Wir beteiligen uns an Vernehmlassungen oder stossen Kampagnen an, auch um der Bevölkerung und den politischen Entscheidungsträgern bewusst zu machen, wo die Probleme liegen. Wichtig ist uns auch die Vernetzung mit anderen Berufsverbänden und Organisationen. Die Forderungen gegenüber der Politik sind oft die gleichen. Als grösste Mitgliederorganisation innerhalb der FMH legen wir auch Wert auf eine gute Zusammenarbeit und Absprache mit der Dachorganisation der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz.

Berufsverband für die Jungen

Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO vertritt die beruflichen, standespolitischen und wirtschaftlichen Interessen der angestellten Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz, speziell der Assistenz- und Oberärzteschaft. Weitere Informationen unter vsao.ch
Angelo Barrile (46), Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, ist Hausarzt, Nationalrat und Präsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte.
© Nicolas Zonvi
1 Studien und Umfragen [Internet]. VSAO. [zitiert 31. August 2022]. Verfügbar unter: vsao.ch/medien-und-publikationen/studien-und-umfragen/
2 Förderung Teilzeit [Internet]. VSAO. [zitiert 31. August 2022]. Verfügbar unter: vsao.ch/arztberuf-familie/foerderung-teilzeit/
3 Jeder zehnte Arzt steigt aus. Schweiz Ärzteztg [Internet]. 23. August 2016 [zitiert 31. August 2022];97(34). Verfügbar unter: https://doi.emh.ch/saez.2016.04953