«Sie kommen für mich in Frage»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21080
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):82

Publiziert am 04.10.2022

Zugegeben, es ist schon lange her. Ich bewarb mich um meine erste Assistentenstelle und wusste: Es wird hart werden. Schon kurz vor der Matura war uns, im Sinne einer «Dissuasionsstrategie» (so nannte man das wirklich) auf Flugblättern vom Ergreifen des Medizinstudiums abgeraten worden. Das Schweizer Gesundheitswesen würde den Ansturm neuer Ärztinnen und Ärzte nicht verkraften. Eine Zukunft als Taxifahrer oder gleich dauernde Arbeitslosigkeit wurde prophezeit. Ja, wer dennoch Medizin studierte, wusste, was auf sie oder ihn zukam, wir waren gewarnt worden. Wir waren die Ärzteplethora.
So sass ich mit gebügeltem Hemd und geputzten Schuhen im Büro des Chefarztes. Er hatte lässig seine Füsse auf den Schreibtisch gelegt, so dass mir die abgelaufenen Ledersohlen entgegen strahlten, angelte sich ein Bewerbungsdossier vom Stapel und blätterte darin flüchtig. Während ich meine eingeübten Sätze vorzubringen versuchte, griff er verärgert nach einem neuen Dossier. Ob es diesmal das meinige war? Er seufzte und schüttelte nachdenklich den Kopf. Mir war klar: keine Chance.
Ich ergatterte anderenorts meine erste klinische Stelle. Im Arbeitsvertrag stand noch: «Die Arbeitszeit richtet sich nach den Bedürfnissen der Anstalt.» Wir Assistenten waren billige Arbeitskräfte, die rund um die Uhr ausgenutzt werden konnten. Später, so galt das ungeschriebene Gesetz, würde man ja als Gutverdiener in der Praxis alle Entbehrungen wieder hereinholen. Manche verhielten sich dann auch so.
Wie gesagt, das ist schon lange her. Mit der Unterstellung der Spitalärztinnen und -ärzte unter das Arbeitsgesetz, wurde die Arbeitskraft teuer. Zahlreiche Stellen wurden neu geschaffen, um Arbeitszeiten ein- und Wettbewerb aufrechtzuhalten. Aus einem Angebotsmarkt wurde ein Nachfragemarkt. Bekam man früher eine begehrte Weiterbildungsstelle in einer Spezialdisziplin erst nach abgeschlossener erster Facharztausbildung, Oberarzterfahrung und Forschungstätigkeit im Ausland, so werden heute – unfassbar – solche Stellen ausgeschrieben!
Vieles an dieser Entwicklung ist zu begrüssen, aber nicht alles. Es ist gut, dass die unmenschlichen Abhängigkeitsverhältnisse vorbei sind, dass rücksichtsloses Ausnützen und Respektlosigkeit der Vergangenheit angehören. Die überwiegende Zahl der jungen Assistenzärztinnen und -ärzte sind heute genauso motiviert, von ihrem Beruf begeistert und begegnen ihren Patientinnen und Patienten mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein. Aber manche Selbstverständlichkeit erodiert auch. Etwa dass es zum «Job» gehört, gemeinsam anspruchsvolle Dienste zu stemmen. Dass man auch seinem Team verpflichtet ist und nicht nur wechselnde Arbeitsslots optimiert ausfüllt. Tatsächlich: Auch nach vier Monaten auf der Bettenstation kann man «dort immer noch etwas lernen», ohne neuen Rotationskick. Die Stellenplethora hat dazu geführt, dass Spezialisierungswege das Sich-Einrichten in allen möglichen, individuell zugeschnittenen Nischenexistenzen suggerieren. Dagegen drohen nun politische Niederlassungsbeschränkungen.
Die Generationen Y und Z fordern selbstbewusst ihre Rechte ein. Das ist gut so. Trotzdem ist es vielleicht auch heute immer noch gut, wenn ein Bewerbungsschreiben eine klare Motivation zum Ausdruck bringt, wenn das CV strukturiert und das Foto adäquat ist und Studien- und Arbeitszeugnisse beiliegen; wenn auch das Formale stimmt und das Hemd gebügelt und die Schuhe geputzt sind. Vielleicht sind wir älteren Chefärztinnen und Chefärzte halt durch die eigene Anamnese noch anders sozialisiert, auch wenn wir die Zeichen der Zeit erkannt haben.
Immerhin sagte uns kürzlich eine Bewerberin nach dem Vorstellungsgespräch: «Ich glaube, Sie kommen für mich in Frage.»
Ludwig T. Heuss
Prof. Dr. med., Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Zollikerberg