Eine stille Revolution?

Forum
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21083
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):22

Publiziert am 18.10.2022

ArbeitsbedingungenDer Fachkräftemangel ist in aller Munde. Praktisch in allen Spitälern sind Betten geschlossen, händeringend wird vielerorts nach Personal gesucht. Dies ist Ausdruck einer neuen Welt, auf die sich Spitäler und Medizin einstellen müssen.
Die Schweiz verfügt aktuell über einen historischen Höchststand an unbesetzten Stellen. Das betrifft speziell das Gesundheitssystem. Praktisch alle Spitäler haben Betten wegen Personalmangel geschlossen. Vier Erklärungen bieten sich an. Erstens, immer weniger Menschen wollen Vollzeit arbeiten. Zweitens, viele ausländische Arbeitskräfte kehrten während der Pandemie zurück in ihre Heimat. Drittens scheiden die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge zunehmend aus dem Erwerbsleben aus. Viertens haben mit der Pandemie Dienstleistungsberufe an Attraktivität verloren. Letzteres ist insbesondere in der Pflege erkennbar.
Zufriedenheit und Produktivität hängen von der Unterstützung des Arbeitsgebers ab.
© Yuri Arcurs / Dreamstime
Nichts spricht dafür, dass es sich um eine vorübergehende Krise handelt, sondern, dass wir es mit einem bleibenden Phänomen zu tun haben. Und darauf haben sich Profession wie Organisation einzustellen. Konnte man bislang davon ausgehen, dass beim klinischen Personal hohe Bereitschaft bestand, unfreundliche Bedingungen zu akzeptieren: Schichtdienste, KITA-unfreundliche Arbeitszeiten, geringe Flexibilitäten et cetera, gilt nun: Ein Umgang mit «unwilligem» Personal muss gefunden werden. Eine Art stille Revolution im Verhältnis von Organisationen und Mitarbeitenden ist zu beobachten.

Eine Frage der Autonomie

Die Hypothese ist, dass insbesondere dort Unwille existiert, wo geringere Autonomie-Grade wahrgenommen werden. «Autonomie», verstanden als eine von drei elementaren Motivationsdimensionen, meint, dass man Wahlmöglichkeiten und Einfluss in seiner Arbeit hat. Wer wenig Autonomie wahrnimmt (was meist mit einer tieferen Hierarchiestufe korreliert), denkt intensiver darüber nach, die berühmt-berüchtigte Work-Life-Balance zu verbessern. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Organisationen ein grosses Interesse daran haben sollten, die Autonomie-Grade ihres Personals zu erhöhen.
Zufriedenheit und Produktivität der Mitarbeitenden wird wesentlich davon bestimmt, wie sehr sie durch Führung unterstützt werden. Erlebte Unterstützung in der Arbeit bringt bessere Leistungen hervor. Alles andere wirkt demotivierend. Wie kann man konstruktiv unterstützen? Dazu gibt es Evidenz: 1) Greifen Sie nur ein, wenn die Mitarbeitenden bereit sind, Hilfe anzunehmen; 2) stellen Sie klar, dass Ihre Rolle darin besteht, zu unterstützen und nicht zu beurteilen; 3) passen Sie den Rhythmus Ihres Engagements den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter an [1].

Eine Umkehr der Verhältnisse

Damit drehen sich die Verhältnisse in interessanter Weise um. Exemplarisch zeigen das check-ins. Diese bestehen darin, dass sich Führungskraft und Mitarbeiterin einmal pro Woche zusammensetzen und die Vorgesetzte im Kern zwei Fragen stellt: 1) Was sind deine Prioritäten diese Woche? 2) Wie kann ich Dich unterstützen? Damit wird das klassische Führungsverständnis auf den Kopf gestellt. Nicht mehr Anweisung und Kontrolle sind wichtig, sondern Fragen zu stellen, die Selbständigkeit und Support transportieren.
Klar ist, dass ein solches Führungsverständnis im Widerspruch zu anderen Orientierungen steht. Kontrolle verschwindet nicht einfach, sondern wird weiterhin wichtig sein (aber wie genau?), Qualität und Leistung sind nach wie vor zu sichern (aber wie genau?). Führung wird darum nicht einfacher. Im Gegenteil, Führende werden zukünftig viel mehr an Widersprüchlichkeiten zu verarbeiten haben. Das wird anspruchsvoll und an manchen Punkten schmerzhaft. Wichtig ist, dass die Gesundheitsorganisationen ihre Führungskräfte in dieser Herausforderung nicht allein lassen (und nur den Druck erhöhen), sondern adäquate Praktiken und Instrumente zur Verfügung stellen. Alles andere würde schiefgehen.
Dr. Christof Schmitz, Geschäftsführer college M, Bern
Prof. Dr. Marcel Zwahlen, Geschäftsführender Direktor Institute of Social and Preventive Medicine (ISPM), Universität Bern
Dr. med. Christina Venzin, Leitende Ärztin am Spital Davos, Dozentin bei college M, Bern

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1 Fisher CM, Amabile TM, Pillemer J. How to Help (Without Micromanaging). Harvard Business Review, Jan.-Feb. 2021 issue