Mein Herz zeigt mir den Weg

Praxistipp
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21089
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):80-81

Publiziert am 04.10.2022

Well-beingAls Hausarzt behandelt Angelo Barrile Burn-out-Patienten. Doch ihm selbst fiel es lange Zeit schwer, auch mal «nein» zu anderen und «ja» zu sich selbst zu sagen. Bis der Arzt und Nationalrat 2020 eine Krebsdiagnose erhielt.
Wie startet mensch den ersten Beitrag zu einer neuen Kolumne? Wie verfasse ich so frisch von der Leber weg meine persönliche Meinung zum Thema «Work-Life-Balance» oder besser zu «Wellbeing», den Ausdruck, den Vanessa Kraege, die sich diese Kolumne mit mir teilt, und ich bevorzugen? Es ist doch nicht so leicht wie gedacht!
Jede und jeder von uns versteht den veralteten Begriff der Work-Life-Balance etwas anders. Die Vorstellung bis zu den Jahrgängen der Babyboomer besagte, Arbeits- und Privatleben müssten in Einklang − oder eben in die Balance − gebracht werden, weil die Arbeit Energie kostet und das Privatleben die dafür notwendige Energie liefert. Aber das entspricht nicht mehr der komplexen Lebensrealität der Menschen. Die Generation X, zu der ich mit Jahrgang 1976 gehöre, sieht eher eine phasenweise Abwechslung zwischen Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und Freizeit. Die Lebensbereiche kosten oder geben uns je nach Lebensphase Energie und wir müssen die Balance finden. Bei der Generation Y, also den Jahrgängen ab den 80er Jahren, sieht das nochmals anders aus. Die Arbeit und das Privatleben werden nicht mehr so strikt getrennt. Anstatt sich ewig im Hamsterrad zu drehen, soll die Arbeitszeit einen Sinn ergeben und im Einklang mit den eigenen persönlichen Werten stehen. Die Arbeitszufriedenheit muss stimmen, das Einkommen ist weniger wichtig geworden.

Die 90-Stunden-Wochen war die Regel

Meiner Meinung nach spielt es keine Rolle, zu welcher Generation wir gehören. Theoretisch wissen wir doch, wie ein gesunder Ausgleich aussähe. Gerade ich als Hausarzt, der seit Jahren Menschen mit Burn-out behandelt, begleitet und wichtige Empfehlungen abgibt, sollte es doch besser wissen. Trotzdem lebte ich bis vor zwei Jahren nicht das, was ich für meine Patientinnen und Patienten richtig und wichtig fand. Bereits als Werkstudent arbeitete ich am Wochenende, nachts oder in den Semesterferien. Zu Beginn meiner Assistenzzeit waren wöchentliche 80 bis 90 Stunden Arbeit eher die Regel als die Ausnahme und später mit der 50-Stunden-Woche wurde uns der Eindruck des Versagens vermittelt, wenn nicht alle Aufgaben in der vorgegebenen Zeit erledigt wurden. Bis zuletzt mit meinem 150-Prozent-Pensum als Hausarzt und Nationalrat hatte ich nie das Gefühl, den eigenen Ansprüchen zu genügen. Wohlgemerkt, sowohl die ärztliche wie auch die politische Arbeit habe ich immer mit viel Freude und Leidenschaft angepackt. Wollte aber nicht wahrhaben, dass auch meine Energieressourcen beschränkt sind.

Krebsdiagnose und neue Prioritäten

Mit meiner Krebsdiagnose im November 2020 hat sich dies geändert. Aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums und der bescheidenen 5-Jahres-Überlebensrate rechne(te) ich mit allem. Ich habe gelernt, die wichtigen Fragen mit den dazu gehörenden Antworten zuzulassen. «Was ist mir wichtig im Leben? Welches ist der Zweck meiner Existenz?» Wegen der anhaltenden Fatigue sind meine Energieressourcen weiterhin eingeschränkt; jeder Tag ist anders. Ob ich will oder nicht, stellt sich ständig die Frage: «Was ist heute für mich wichtig, was kann ich bewältigen und was geht nicht?» Das Setzen der Prioritäten gelingt mir am besten, wenn ich meinem Herzen folge. Es hat seine Zeit gedauert und Sie können mir gerne glauben, dass es als Mitglied unserer Leistungsgesellschaft, insbesondere als Politiker, nicht immer einfach ist, Schwächen zuzugeben oder auch mal «nein» zu den anderen und «ja» zu sich selber zu sagen. Aber ich bin dankbar dafür, dass ich es endlich gelernt habe. Heute erlebe ich jeden Tag als Geschenk und mache das Beste draus. Das empfehle ich auch Ihnen und dass Sie es ohne Krankheit oder Schicksalsschlag lernen mögen. Es ist nämlich so einfach!
Wenn wir es schaffen, auf unser Herz zu hören oder – wie es Lissa Rankin in ihrem Buch «Mind Over Medicine» beschreibt – uns an unserem inneren Leitstrahl zu orientieren, setzen wir Prioritäten richtig und leben im Einklang mit unseren Werten. Bei der Arbeit und im Privatleben.
Ob wir es nun Work-Life-Balance, Wellbeing oder wie auch immer nennen, spielt keine Rolle. Hauptsache, wir tun es. Für alles andere ist unser Leben einfach zu wertvoll und kurz.
Angelo Barrile
Der Hausarzt und Nationalrat schreibt an dieser Stelle regelmässig über die Themen Wellbeing und Work-Life-Balance.
© Luca Bartulović