Rückblick eines Ophthalmologen

Forum
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21098
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):22

Publiziert am 11.10.2022

BuchbesprechungDer Schweizer Ophthalmologe Balder Gloor ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. In seiner Autobiografie verbindet der 90-Jährige seine Vita mit der Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein «seltenes Kunststück», findet Bruno Kesseli.
Balder Gloor als eine herausragende Figur der jüngeren Schweizer Ophthalmologiegeschichte zu bezeichnen, ist nicht sehr riskant. Schon rein physisch war und ist er eine unübersehbare Grösse. Dass dieses Attribut bei ihm auch im übertragenen Sinn gerechtfertigt ist, dürfte in Fachkreisen kaum bestritten sein.
Es sei eingeräumt, dass der Schreibende in seinem Urteil nicht ganz unbefangen ist. Bereits als Medizinstudierender in Zürich war er von Gloors klarer, unprätentiöser Art angetan. In einer gänzlich anderen Rolle erlebte er ihn Jahrzehnte später bei der Produktion seines bei EMH erschienenen Buchs zum Nachlass seines Grossvaters Arthur Gloor. Es war eindrücklich zu erleben, welchen mitunter fast unheimlich anmutenden Schaffensrhythmus der emeritierte Professor im hohen Alter aufrechtzuerhalten vermochte.
Fünf Jahre später, in seinem 91. Lebensjahr, legt Balder Gloor unter dem Titel Mein Weg durch die Augenheilkunde bereits ein nächstes gewichtiges Werk vor. Auch diese Charakterisierung darf man wörtlich nehmen. Knapp zwei Kilogramm wiegt der «Schunken», in dem der Autor auf 688 dicht beschriebenen Seiten − die allerdings durch zahlreiche Abbildungen aufgelockert sind − seinen Weg durch die Augenheilkunde nachzeichnet. Die etwas saloppe Begrifflichkeit soll keineswegs abwertend verstanden werden. Es handelt sich um ein sorgfältig gestaltetes, gut lesbares Buch von hoher Qualität, mit dem man sich leicht anfreundet.
Die zentrale Frage ist, ob uns der Autor etwas zu sagen hat. Sein Curriculum als Arzt, Akademiker und Ausbildner ist zweifellos aussergewöhnlich. Es braucht aber nicht Hunderte von Seiten, um Gloors Werdegang zusammenzufassen. Geboren in Madrid. Schulbesuch in Biel. Medizinstudium in Bern und Paris. Assistentenjahre in Pathologie, Innerer Medizin und schliesslich Ophthalmologie und Ophthalmochirurgie bei Professor Alfred Bangerter in St. Gallen mit einem Abstecher in die USA. Erlangung des Facharzttitels für Ophthalmologie. 1967–69 Fellowship in St. Louis, Missouri. 1969-74 Oberarzt und später stellvertretender Klinikdirektor an der Universitäts-Augenklinik Bern. 1974–85 Professor und Vorsteher der Universitäts-Augenklinik Basel. 1985 bis zur Emeritierung im Jahr 2000 Professor und Direktor der Universitäts-Augenklinik Zürich. Dekan der Medizinischen Fakultäten Basel (1979/80) und Zürich (1992–94). Soweit der Schnelldurchlauf.
Glücklicherweise kann die oben aufgeworfene Frage mit einem vorbehaltslosen Ja beantwortet werden. Balder Gloor lässt die einzelnen Stationen seines Lebens für die Leserschaft lebendig werden, zeichnet unzählige Begegnungen mit Sinn für Anekdotisches nach, vermittelt detaillierte Einblicke in seine berufliche Laufbahn und die Entwicklung seines Fachs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ebenso spannend sind «Nebengeleise» wie seine humanitären Engagements und die Mitarbeit in zahlreichen internationalen Gremien. Wohldosiert lässt er uns auch an seinem Familienleben teilhaben. Das Buch erhält dadurch den Charakter einer Fundgrube für alle, die Freude daran haben, die Welt der Medizin des 20. Jahrhunderts nicht aus der Distanz zu betrachten, sondern gewissermassen darin einzutauchen.
Bei der Lektüre des Buchs wird rasch klar, dass der Autor nicht nur als Arzt, Wissenschaftler und akademischer Lehrer Beeindruckendes zu leisten imstande war. Er überzeugt auch als aufmerksamer Beobachter seiner Zeit und seiner Zeitgenossen und weist einen Horizont auf, der weit über das eigene Fachgebiet hinausreicht. Zudem verfügt er über erzählerisches Talent, das es ihm ermöglicht, seine Eindrücke und Erinnerungen in fesselnder Weise zu vermitteln, ohne sich in Details zu verlieren, wohltuend aufgelockert durch Einsprengsel trockenen Humors. Auf diese Weise bringt er das eher seltene Kunststück zustande, sowohl für ein Fach- als auch für ein Laienpublikum mit einem Flair für erlebte und entsprechend subjektiv geschilderte Medizingeschichte interessant zu sein.
Dr. med. Bruno Kesseli, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Balder P. Gloor
Mein Weg durch die Augenheilkunde
Bern: Stämpfli; 2022

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