Wer will meine Praxis?

Hintergrund
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21100
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):18-21

Publiziert am 11.10.2022

PraxisnachfolgeEin Berufsleben lang ist die Praxis ihr «Baby». Jedoch stellt sich irgendwann die Frage der Nachfolgelösung. Eine zu finden, ist gar nicht so einfach. Wie sie dennoch gelingen kann und was Alte wie Junge dabei beachten sollten.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig wird», überblickt Neurologe Karsten Beer seine Anstrengungen, eine Nachfolgelösung für seine Praxis zu finden. Der 61-Jährige wünschte sich vorerst Verstärkung, um die immer grössere Nachfrage zu bewältigen, mit der Perspektive der schrittweisen Praxisübergabe. Doch auf entsprechende Inserate meldeten sich primär ebenfalls ältere Neurologen.
Ursprünglich hatte Karsten Beer geplant, einer Kollegin, einem Kollegen zum Auftakt des Nachfolgeprojekts sofort 50% seiner Praxis-AG zu übertragen, doch dieser Schritt sei offenbar für die meisten Interessierten zu gross. «Man muss die Jungen langsam an die Praxisarbeit heranführen und sich Zeit geben, herauszufinden, wie man die Zusammenarbeit für beide Seiten optimal gestaltet.» Worauf führt der Neurologe die zaghafte Nachfrage nach im Allgemeinen bestens etablierten Praxen zurück?

Auslaufmodell Einzelpraxis

Da sei einmal die grosse Konkurrenz der Spitäler, die ihrerseits unter dem Fachärztemangel litten. Mit attraktiven Arbeitsbedingungen verstünden sie es, den Nachwuchs in den durch die Weiterbildung vertrauten Netzwerken zu halten. Des Weiteren hätten aber auch die nationalen und kantonalen Zulassungsbeschränkungen zur freiberuflichen Tätigkeit die Lage verschärft. So kann beispielsweise nur ambulant tätig werden, wer drei Jahre in einer für sein Fachgebiet anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet hat. «Das ist im Prinzip sinnvoll», so Karsten Beer, «aber dadurch steht der bisher häufig genutzte Nachwuchspool aus den Nachbarländern nur noch sehr bedingt zur Verfügung». Doch vor allem strebe die junge Generation nach einer befriedigenden Work-Life-Balance, also genug Zeit für die Familie und Freizeit, stellt der Neurologe fest, der nach eigener Aussage 200 Prozent arbeitet. «Dies ging leider auch zu Lasten der Familie», wie er einräumt. Deshalb kann Karsten Beer gut nachvollziehen, dass heute kleinere Pensen gefragt sind. «Da haben Einzelpraxen wie die meine schlechte Karten.»
Dies bestätigt Regula Friedli-Kronenberg, Präsidentin der Jungen Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte Schweiz (JHaS), auch wenn immerhin noch 10% der in den letzten Jahren übernommenen hausärztlichen Praxen von einzelnen Unternehmenden geführt werden [1]: «Die meisten Kolleginnen und Kollegen arbeiten Teilzeit, übrigens unabhängig vom Geschlecht.» Sie präzisiert dabei, dass gemäss FMH-Ärztestatistik 55 Stunden pro Woche als Vollzeitäquivalent betrachtet werde [2]. «Die junge Ärzteschaft strebt Arbeitszeiten wie in anderen Berufen an – entsprechend beliebt sind Pensen von 70-80 Prozent.»

Selbständigkeit bleibt gefragt

Obwohl junge Ärztinnen und Ärzte zunehmend auch als Angestellte in Gesundheitszentren oder Praxisgruppen arbeiten [3], steht der Wunsch nach Teilzeitpensen nicht grundsätzlich im Widerspruch zu jenem nach der eigenen Praxis. Bei der jungen Hausärzteschaft sucht laut JHaS-Präsidentin nach wie vor eine Mehrheit eine selbständige Tätigkeit. Gemäss einer Umfrage von 2019 ist die beliebteste Unternehmensform eine kleinere Gruppenpraxis mit einem Team von zwei bis fünf Ärztinnen und Ärzten [1]. Davon verspricht sich auch Regula Friedli-Kronenberg «einen wertschätzenden und respektvollen Umgang im Team und inspirierenden Austausch.» Für sie gehöre es ausserdem dazu, den Arbeitsort mitgestalten zu können. «Deswegen möchte ich an der Praxis auch mitbeteiligt sein.»
Als weitere wichtige Stichworte für die von ihr gewünschten Berufsausübung nennt Regula Friedli-Kronenberg ausreichend Zeit für die Patientinnen und Patienten sowie einen klug geplanten Notfalldienst, der den verfügbaren Ressourcen Rechnung trägt. Zudem ist es ihr wichtig, den Grossteil der Büroarbeit während der Arbeitszeit erledigen zu können, wofür eine effizient organisierte Praxis mit einer möglichst unterstützenden IT-Infrastruktur und versierten MPA Voraussetzung ist. Nicht zuletzt braucht es für eine solch ideale kleine Gruppenpraxis ausreichend grosse Räumlichkeiten, wobei: «Die abzugebenden Einzelpraxen sind [dafür] zu klein», schreibt Stephan Gerosa, Hausarzt und Verwaltungsratspräsident der «Praxis Pro AG», die Hausärztinnen und -ärzte bei der Nachfolgesuche unterstützt [4].

Im Dschungel der Vorgaben

Eine Praxis zu führen ist eine Herausforderung, ist sich Karsten Beer bewusst. «Ich verstehe alle, die sich als Angestellte nicht mit Buchhaltung, Verträgen und Zulassungsbedingungen befassen, geregelte Arbeitszeiten und Ferien haben und sich primär auf ihre medizinische Tätigkeit konzentrieren wollen.» Dennoch überwiegen für ihn die Vorzüge der selbständigen Praxistätigkeit klar. «Ich entscheide selber, wann und wie viel ich arbeite, worauf ich mich spezialisiere, wie ich die Praxisprozesse gestalte – und unterliege dabei keinen hierarchischen Zwängen.»
Diese Entscheidungsfreiheit ist Karsten Beer die Verantwortung und das Mehr an Arbeit wert. Das unternehmerische Risiko schätzt er als gering ein: «Solange unsere Arbeit durch die Krankenkassen abgegolten wird, haben wir Praxisinhabende eine luxuriöse Situation.»
Ärztinnen und Ärzte, die sich für die Selbständigkeit interessieren, sehen sich jedoch auf den ersten Blick mit vielen Hürden konfrontiert. «Die Vorgaben werden immer vielfältiger und komplexer», fasst Regula Friedli-Kronenberg zusammen. «Welche Bewilligungen braucht es, welche Mitgliedschaften, welche Zusatzzertifikate, etwa für Labor oder Röntgen …»
Ausserdem gilt es, sich betriebswirtschaftliche und juristische Kompetenzen selber anzueignen – ein Thema, das sowohl Regula Friedli-Kronenberg wie Karsten Beer als Teil der Aus- und Weiterbildung vermissen. So tasten sich viele junge Hausärztinnen und Hausärzte langsam an die Selbständigkeit heran. «Am beliebtesten ist es, sich zuerst circa fünf Jahre anstellen zu lassen», weiss die JHaS-Präsidentin [5]. Ihr Rat an künftige Praxisinhabende: «Nehmt euch genug Zeit für eine Praxisgründung, vernetzt euch und sucht Unterstützung!» Sei es bei einem niederschwelligen Support-Programm wie es die JHaS anbieten, über gezielte Weiterbildung (siehe weiterführende Links online über den QR-Code) oder professionelle Beratung. «Niemand muss das Rad neu erfinden.»
Für den Neurologen Karsten Beer ist es schwierig, eine Nachfolgelösung für seine Praxis zu finden.

Die Erfahrung anderer nützen

Diese Meinung vertritt auch Viera Rossi von der FMH Services Genossenschaft, der Dienstleistungsorganisation der Schweizer Ärztinnen und Ärzte. «Eine Nachfolgelösung beziehungsweise ein Praxiskauf braucht nicht nur viel Zeit, die beruflich und familiär beanspruchten Ärztinnen und Ärzten im Allgemeinen fehlt», sagt sie. «Zentral sind auch Möglichkeiten, Wissen und Erfahrung, was bei solchen Projekten üblich und nötig ist.» Dies alles könne eine professionelle Beratung bieten. Denn angesichts der hohen gesetzlichen Anforderungen an Praxen, etwa punkto Qualitätsmanagement, Personalführung und Infrastruktur, sei es sogar für spezialisierte Anbietende eine Herausforderung, den Überblick zu bewahren. Ausserdem stellten sich bei den heute gefragten Unternehmensformen für Gruppenpraxen komplexe Fragen, die viel Know-how erforderten.
«Wo die Kaufinteressierten bei Einzelunternehmen über die Betriebsdaten und Zahlen der letzten fünf Jahre informiert werden müssen – natürlich unter Wahrung der Vertraulichkeit – ist bei Kapitalgesellschaften wie AG und GmbH eine vollständige Unternehmensprüfung zwingend», sagt Viera Rossi. So lasse sich sicherstellen, dass in einer Praxis alles in Ordnung sei und bei einem Kauf nicht unwissentlich Altlasten übernommen würden. Die Beraterin geht in der aktiven Nachfolgesuche von mindestens zwei Jahren aus, die Praxisinhabende bis zum Tag der gewünschten Praxisübergabe einkalkulieren sollten, «plus bis zu einem Jahr Übergangszeit wegen Unwägbarkeiten wie Kündigungsfristen, Abschluss von Facharztprüfungen et cetera». Je nach gewählter Nachfolgestrategie sei jedoch mit einer Gesamtzeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu rechnen.

Wirksamer Team-Effekt

Nebst der zeitlichen Flexibilität und den grosszügigen Räumlichkeiten ist eine Praxis umso attraktiver für kaufinteressierte Ärztinnen und Ärzte, je besser sie auch den heutigen gesetzlichen Erfordernissen genügt. «Aufgrund des aktuell grossen Mangels an Grundversorgenden haben wir Jungen ein grosses Privileg», stellt Regula Friedli-Kronenberg fest. «Wir können aus dem Angebot die am besten gelegenen und ausgestatteten Praxen wählen.» Immer wieder wird punkto Infrastruktur die Krankengeschichte als Paradebeispiel genannt. «Die junge Ärztegeneration ist sich nicht gewohnt mit Papier-Krankengeschichten zu arbeiten. Bei einer Praxisgründung ist sie zudem verpflichtet, sich dem elektronischen Patientendossier (EPD) anzuschliessen», sagt Viera Rossi. Aktuell kämen aber nur relativ wenige Praxen auf den Markt, welche die Krankengeschichten elektronisch führten. So erhöhen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die Chancen auf eine gute Nachfolgelösung, wenn sie spätestens mit Blick auf den geplanten Praxisverkauf ihre Infrastruktur modernisieren.
Ein solches Projekt lässt sich auch gemeinsam mit anderen älteren Einzelpraxis-Inhabenden realisieren oder gar in Zusammenarbeit mit einer jüngeren Kollegin, einem jüngeren Kollegen. Ein Ansatz, der sich für Hausarzt Stephan Gerosa als fruchtbar erwiesen hat, da der Nachwuchs über dessen Netzwerk wiederum für Zugänge sorgte [4]. Eine weitere erfolgreiche Strategie, um Nachfolgerinnen und Nachfolger zu gewinnen, sind Praxisassistenzen, wie sie die Hausärzteschaft kennt: Über 40 Prozent der jungen Hausärztinnen und -ärzte steigen in jenen Praxen ein, wo sie ihre Praxisassistenz absolviert haben [1]. Im Wissen darum engagiert sich auch Karsten Beer bei der jüngsten Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie und bietet angehenden Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Spital Schnuppertage in seiner neurologischen Praxis an. Es sei höchste Zeit, die «Blackbox Selbständigkeit» aufzubrechen, sagt Beer. «Wir müssen den jungen Kolleginnen und Kollegen zeigen, dass Praxisarbeit Spass macht!»
© Andrea De Martin / Dreamstime
1 Lindemann Fanny, Laukenmann Julia, Kronenberg Regula, Streit Sven: «Nachwuchsförderung – Auf gutem Weg, aber noch nicht am Ziel», Primary and Hospital Care 2019;19(09).
2 Hostettler Stefanie, Kraft Esther: «FMH-Ärztestatistik 2021. Jeder vierte Arzt ist 60 Jahre alt oder älter», Schweizerische Ärztezeitung 2022;103(13).
3 Seiler, Roman: «Es wird nicht mehr in jedem Dorf einen Hausarzt geben»; Interview mit Philippe Luchsinger, Präsident des Verbands der Haus- und Kinderärzte Schweiz vom 30.12.2019. (www.handelszeitung.ch/panorama/es-wird-nicht-mehr-jedem-dorf-einen-hausarzt-geben; Zugriff am 7.9.2022)
4 Gerosa Stephan: «Nachfolgeregelungen für Hausarztpraxen», Synapse 2019;04.
5 Luzia Birgit Gisler, Sven Streit: «Erst angestellt, dann selbständig in ärzteeigenen Gruppenpraxen», Schweizerische Ärztezeitung 2017;98(9).
Für künftige Hausärztinnen und -ärzte bietet etwa die mfe academy Praxisführungskurse (www.hausaerzteschweiz.ch/mitglieder/mfe-academy) an. Diese findet man auch bei der Stiftung zur Förderung und Weiterbildung in Hausarztmedizin WHM FMF (auf Deutsch und Französisch). Gleichzeitig stehen dort auch Fortbildungen für Lehrpraktikerinnen und -praktiker auf dem Programm: www.whm-fmf.ch/de/kurse/