Das selbstbestimmte Kind

Praxistipp
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21107
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):80-81

Publiziert am 18.10.2022

RechtAb wann können Kinder und Jugendliche selbst entscheiden, welchen medizinischen Eingriffen sie zustimmen wollen? Fakt ist: Der Weg von der Fürsorge zur Autonomie ist individuell. Was Urteilsfähigkeit bedeutet und weshalb auch nicht urteilsfähige Kinder angehört werden sollten.
Kinder sind vom ersten Tag an ihres Lebens Patientinnen und Patienten, und sie sind besonders verletzlich. Zunächst ganz auf Schutz und Fürsorge angewiesen, wird ihre eigene Perspektive, je älter sie werden, umso bedeutsamer. Jeder medizinische Eingriff setzt die informierte Zustimmung der betroffenen Person voraus, sie ist Ausdruck der Selbstbestimmung und wahrt die körperliche Integrität. Doch ab wann dürfen Kinder und Jugendliche in medizinischen Angelegenheiten selbst entscheiden, zum Beispiel ob sie sich gegen Corona impfen, eine Ohrenkorrektur vornehmen oder eine Essstörung behandeln lassen wollen? Und wenn die Entscheidung noch bei den Eltern liegt: Sind diese ganz frei? Können sie Eingriffe wünschen, die medizinisch nicht unbedingt erforderlich sind? Und können sie Eingriffe, die medizinisch erforderlich sind, ihrem Kind verweigern?

Eine individuelle Frage

Das Recht behandelt urteilsfähige und urteilsunfähige Kinder hinsichtlich ihrer Entscheidungskompetenz unterschiedlich. Über Eingriffe in den eigenen Körper entscheidet jede urteilsfähige Person selbst, zumal ihre Integrität tangiert ist – ein höchstpersönliches, das heisst mit der Person untrennbar verbundenes Recht (Art. 19c ZGB). Nicht das Alter bestimmt darüber, ob Kinder und Jugendliche selbst über eine medizinische Behandlung entscheiden können und müssen, sondern ihre individuellen Fähigkeiten.
Doch was bedeutet «Urteilsfähigkeit» im Sinne des Gesetzes (Art. 16 ZGB)? Dazu einige Feststellungen: Erstens: «Urteilsfähigkeit» wird grundsätzlich vermutet, das Kindesalter lässt die Vermutung der Urteilsfähigkeit zwar entfallen, allerdings darf bei älteren Kindern und Jugendlichen die Urteilsfähigkeit nicht pauschal verneint, sondern sie muss individuell und im Gespräch abgeklärt werden. Zweitens: «Urteilsfähigkeit» ist relativ, sie muss im konkreten Fall, im Hinblick auf eine bestimmte Handlung oder Entscheidung gegeben sein. Das heisst, je nach Komplexität oder Tragweite der Situation kann eine Person urteilsfähig sein oder auch nicht. Drittens: Das Gesetz definiert «Urteilsfähigkeit» als die Fähigkeit, «vernunftgemäss zu handeln». Damit ist allerdings nicht gemeint, dass die Person « vernünftige» Entscheide treffen muss. Wir haben ein Recht auf Unvernunft. Vielmehr ist damit die Fähigkeit gemeint, sich einen Willen zu bilden und entsprechend diesem Willen zu handeln. Dazu gehört die Fähigkeit, aufgrund von Lebenserfahrung die Realität zu erfassen und einzuschätzen, Abwägungen vorzunehmen, die Motive zu überprüfen und die eigene Entscheidung zur Geltung zu bringen. Kinder entwickeln ihre Fähigkeiten unterschiedlich rasch, haben je eigene Lebenswelten und verfügen über persönliche Erfahrung. Die medinischen Entscheidungen sind unterschiedlich komplex. All dies ist bei der Einschätzung der Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen miteinzubeziehen, was sie nicht einfach macht.

Urteilsfähigkeit kennt keine Grautöne

Vor allem aber bestehen mitunter Spannungen: zwischen den Wertvorstellungen der Jugendlichen, die sich auf ihre Autonomie berufen, und der Eltern, die für die Erziehung verantwortlich sind und die Kosten tragen; zwischen dem Willen des Kindes und dem Verständnis der Eltern oder des medizinischen Fachpersonals von seinem Wohl; zwischen dem Anliegen der Eltern, über gesundheitsrelevante Angelegenheiten ihres Kindes informiert zu sein und der Schweigepflicht der Ärztin. So komplex sich ihre Feststellung erweist: Die Urteilsfähigkeit bleibt entscheidend – mit dieser erlangen Kinder und Jugendliche das alleinige Entscheidungsrecht. Und entgegen unserer Intuition: Das Recht kennt keine Abstufungen der Urteilsfähigkeit. Kinder und Jugendliche sind nicht mehr oder weniger urteilsfähig, sondern entweder sind sie es in Bezug auf die in Frage stehende Entscheidung, oder sie sind es nicht. Mit der Urteilsfähigkeit vollzieht sich also die Grenze zwischen Autonomie und Fürsorge. Idealerweise aber beziehen auch urteilsfähige Kinder und Jugendliche ihre Eltern mit ein. Umgekehrt ist es nicht nur ein Ideal, sondern auch eine (rechtliche) Verpflichtung, auch ein nicht urteilsfähiges Kind anzuhören und in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen. Weitere Informationen unter www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Beurteilung-der-Urteilsfaehigkeit.html
Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Andrea Büchler
Die Rechtswissenschaftlerin forscht und lehrt unter anderem zu Medizinrecht und schreibt an dieser Stelle regelmässig über rechtliche Fragen im Arztberuf.
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