«Die Sinne sind unser Tor zur Erkenntnis»

Wissen
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21109
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):70-71

Publiziert am 11.10.2022

SensorikDie Sinne werden ausgiebig erforscht. Die Forschung befasst sich jedoch noch kaum mit dem Verständnis ihrer Rolle für unser menschliches Funktionieren. Ihm widmet sich nun das neue Institut «The Sense» mit Standorten in Lausanne und Sitten.
Unsere Sinne sind «das Gerüst, auf das sich unsere Wahrnehmung, unsere Persönlichkeit und unser Sein stützt». Diese Beschreibung des schweizerisch-amerikanischen Neurowissenschaftler Micah Murray klingt poetisch, spiegelt aber auch ein Paradox der Medizin wider: Seh-, Tast-, Geruchs-, Geschmacks- und Hörsinn werden ausgiebig erforscht, aber es gibt noch wenig Forschung zum Verständnis ihrer Rolle für unser menschliches Funktionieren und unsere Fehlfunktionen. Diese Lücke will nun das brandneue Zentrum The Sense schliessen. Dieses wurde von Micah Murray und Olivier Lorentz, Professoren an der Universität Lausanne (UNIL), respektive an der HES-SO Valais-Wallis, ins Leben gerufen und im Januar 2022 eingeweiht.
Das Forschungszentrum vereint Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der UNIL, des Waadtländer Universitätsspitals (CHUV) und der Walliser Hochschule. «Damit haben wir gleichzeitig Zugang zu Grundlagen-, klinischer und angewandter Forschung», betont Micah Murray. «Wir bringen alle zusammen und lassen sie im Geiste der Interdisziplinarität zusammenarbeiten.» Derzeit sind dem Institut mehr als 70 Personen angegliedert, darunter 18 Professorinnen und Professoren.

Die Sinne beeinflussen den Lebensweg

«Unsere Sinne bestimmen, wie wir die Welt erleben», erklärt der Wissenschaftler. «Sie sind unser Tor zur Erkenntnis, sie beeinflussen unser Verhalten und unsere Lebensentwürfe und können eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung bestimmter gesundheitlicher Störungen oder Krankheiten spielen.» Oftmals werden sie jedoch separat voneinander oder nur in Verbindung mit einem bestimmten Leiden untersucht. «Dieses ganze Wissen müssen wir bündeln», meint er. «Man wird dann feststellen, dass sich eine für Babys entwickelte Lösung beispielsweise auch bei älteren Menschen anwenden lässt oder dass man ein Gesundheitsproblem beheben kann, indem man gleichzeitig auf Seh- und Tastsinn einwirkt.»
Am Institut läuft eine Vielzahl von Projekten. Davon hat The Sense vier direkt finanziert, die innerhalb eines Jahres Ergebnisse liefern sollen. Eines davon beschäftigt sich mit der Kurzsichtigkeit. «Myopie ist eine richtige Epidemie», sagt Micah Murray. «Man schätzt, dass in 30 Jahren 50% der Weltbevölkerung kurzsichtig sein werden.» Dennoch gelingt es immer noch kaum, die richtige Sehhilfenverordnung effektiv zu bestimmen. «Gegenwärtig werden den Betroffenen verschiedene Korrekturen angeboten und sie werden gefragt, mit welchen sie am besten sehen», erklärt er. «Nach etwa einem Dutzend Versuchen ist so eine Person total verunsichert.»
Laut einer Studie, die 2014 publiziert wurde, haben zwischen 25% und 55% der Brillentragenden nicht die richtige Korrektur. «Besonders akut ist das Problem bei Kindern», meint er. Dabei kann sich ein beeinträchtigtes Sehvermögen negativ auf die schulische Laufbahn und die Entwicklung der sozialen Kompetenzen auswirken. Eine Überkorrektion kann zudem dazu führen, dass die Augen überanstrengt sind und die Krankheit daher schneller fortschreitet. «The Sense hat es sich zur Aufgabe gemacht, Methoden zu entwickeln, um Krankheiten wie Kurzsichtigkeit besser zu verstehen und zu behandeln», betont er.
Dazu nutzt die Forschungsgruppe unter anderem eine von Benedetta Franceschiello, Professorin für angewandte Mathematik an der HES-SO Valais-Wallis, entdeckte Innovation auf dem Gebiet der Magnetresonanztomographie. «Sie hat eine Technik entwickelt, die scharfe Bilder des sich bewegenden Auges liefert», erklärt er. «Das erleichtert die Kontrollen bei Kindern und älteren Menschen, die mit dem Stillhalten oft Mühe haben. Zudem lassen sich so die Augenbewegungen der untersuchten Person mit ihrer Gehirnaktivität vergleichen.»

Träume unter der Lupe

Ein zweites Projekt, das am The Sense enstand, befasst sich mit dem Träumen. «Wir werden messen, was im Gehirn einer schlafenden Person passiert, um herauszufinden, wie sich Alpträume auf die Schlafqualität auswirken können», so Murray.
Die letzten beiden Forschungsprojekte konzentrieren sich auf Bewegung. Eines davon wird sich damit beschäftigen, wie wir unseren Körper im Raum verorten. «Die Idee ist, herauszufinden, ob man Stürze bei Senioren verhindern kann, indem man ihre Wahrnehmung der eigenen Umgebung verbessert», erklärt er. Das andere befasst sich mit dem Gehen. «Wir wissen viel über die Pathologien, die unsere Fortbewegung beeinflussen – sei es Arthritis, Geburtsfehler oder Sportverletzungen, aber wir wissen oft nicht, wie sie sich in der realen Welt äussern.» The Sense hofft, hier mit der Entwicklung einer Methode zur Ganganalyse Abhilfe zu schaffen.
Eines der langfristigen Ziele von The Sense ist es, nicht invasive Lösungen zu entwickeln, um die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten und der Gesellschaft im Allgemeinen zu verbessern. Um dies zu erreichen, konsultiert The Sense regelmässig Patientenverbände und Organisationen aus der Mitte der Gesellschaft, wie Action Innocence oder den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband. «Sie legen uns Herausforderungen vor, die wir durch Co-Kreation mit ihnen zu lösen versuchen», erklärt Micah Murray.
Die von The Sense entwickelten Lösungen können ganz unterschiedlicher Art sein. Manchmal genügt schon eine einfache Anpassung der Umgebung oder des Verhaltens des Patienten. Möglich sind aber auch gesundheitspolitische Interventionen, beispielsweise gezieltere Schulungen der Personen, die Augenkontrollen in Schulen durchführen, oder die Einführung einer neuen Technologie.

Gemälde an ihrem Relief ertasten

«Wir arbeiten an einem haptischen Gerät, das es blinden Menschen ermöglichen soll, über ihr Telefon Tastreize zu empfangen», so der Forscher. «Dies würde es ihnen ermöglichen, im Museum ein Gemälde anhand seines Reliefs zu ertasten oder einen Text in Blindenschrift auf ihrem Display zu lesen.» Die vom Grenobler Start-up-Unternehmen Hap2U entwickelte Technologie könnte sogar in die digitalen Displays von Autos integriert werden, sodass die fahrende Person immer die Strasse im Blick behalten kann.
Micah Murray hofft, dass das neue Institut eigene Innovationen hervorbringen wird, aus denen dann wiederum Start-ups entstehen. «Die Industrie hat Möglichkeiten, die uns im akademischen Umfeld nicht zur Verfügung stehen», sagt er. «Wir müssen darauf achten, unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch attraktive Karrieremöglichkeiten zu bieten. Es geht um unseren Nachwuchs.»
Es gibt zwar zahlreiche Studien über die Sinne, doch nur wenige befassen sich mit dem Verständnis ihrer Rolle für das menschliche Funktionieren im Verlauf des Lebens.
© Scott Webb / Unsplash