Revidierte Patientenverfügung der FMH ist verfügbar

Kommentar
Ausgabe
2022/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21110
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(40):24-25

Publiziert am 04.10.2022

SelbstbestimmungDie FMH präsentiert eine revidierte Patientenverfügung. Ab Oktober wird sie online und in Papierform zur Verfügung stehen. Sprechen Sie auch mit Ihren Patientinnen und Patienten darüber.
Als Ärztinnen und Ärzte erleben wir immer wieder kritische Situationen, in denen rasch Entscheidungen getroffen werden müssen – oft auf Basis weniger Informationen. Je kritischer die Situation der Patientin oder des Patienten ist, desto rascher muss die Entscheidung erfolgen. Leider ist es dabei gleichzeitig oft so, dass die betroffene Person zu ihren Wünschen oder ihrem Willen nicht mehr klar Auskunft geben kann. Somit ist sie rechtlich gesehen urteilsunfähig und wir als medizinisches Fachpersonal müssen gemäss dem mutmasslichen Willen für sie entscheiden.

Orientierung in Notsituationen

Ich erinnere mich zum Beispiel an Herrn P., den ich vor einigen Jahren auf der Intensivstation im Universitätsspital Zürich im Endstadium einer schweren Lungenerkrankung kennenlernte. Er war lungentransplantiert und litt unter grösster Atemnot. Ich habe mühsam versucht, ihn unter seiner Full-Face-Maske zu fragen, ob er intubiert werden will oder nicht, falls sich sein Zustand weiter verschlechtern sollte. Nach einer Weile musste ich einsehen, dass dieser Versuch vergeblich war. Herr P. verstand mich unter seiner Maske und nach Luft ringend nicht mehr. Herr P. hatte keine Patientenverfügung hinterlegt. Ich bedauerte dies sehr, denn es hätte mir und dem gesamten Team schwierige Entscheidungen abgenommen. Natürlich versuchen wir in solchen Situationen mit Angehörigen oder vorbehandelnden Ärztinnen oder Ärzten zu sprechen. Doch manchmal reicht dafür die Zeit nicht oder es ist Wochenende, mitten in der Nacht, und wir können niemanden erreichen.

Nutzen Sie die Patientenverfügung

In diesen Situationen ist eine Patientenverfügung eine unschätzbare Hilfe. In der Schweiz bieten diverse Organisationen eine solche an. Die bestehende Patientenverfügung der FMH ist seit vielen Jahren schweizweit die am häufigsten genutzte. In einem zweijährigen Prozess wurde sie mithilfe einer breit abgestützten Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten aus den Bereichen Intensiv- und Palliativmedizin, Intensiv- und Palliativpflege, Hausarztmedizin, Psychiatrie, Anästhesie und Notfallmedizin sowie der Rechtsabteilung und Experten und Expertinnen aus dem Bereich Advance Care Planning überarbeitet. Dabei wurden nicht nur neueste wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesem Gebiet berücksichtigt, es wurde zudem Wert darauf gelegt, dass die überarbeitete Version im Einklang steht mit den auf nationaler Ebene laufenden Bestrebungen zur Entwicklung der gesundheitlichen Vorausplanung. Schauen Sie sich die neuen Versionen der Patientenverfügung an. Und noch wichtiger: Füllen Sie sie aus! Für sich selbst. Geben Sie die Patientenverfügung auch Ihren Angehörigen und Ihren Patientinnen und Patienten ab. Wir als medizinisches Fachpersonal sollten sie zudem mit unseren Patientinnen und Patienten besprechen. Für die FMH ist zentral, dass alle Bürgerinnen und Bürger die Patientenverfügung allein ausfüllen können, wir wissen jedoch, dass die Beratung durch eine Fachperson ausschlaggebend sein kann, um gut informiert die passende Entscheidung zu fällen – und diese mit dem Kreuzchen am richtigen Ort zu dokumentieren. Denn diese Kreuzchen haben weitreichende Folgen. Sobald das Dokument signiert und datiert ist, ist es rechtsgültig und verpflichtet uns, im Notfall danach zu handeln.

Individuelle Wertehaltung festhalten

In einer pluralen Gesellschaft ist die Haltung des Individuums zunehmend wichtig. Daher wird der Wertehaltung in der überarbeiteten Patientenverfügung der FMH sowohl in der ausführlichen Version wie auch in der Kurzversion ein besonderes Gewicht beigemessen. Eine Erklärung zu den eigenen Werten kann jede Person geben. Uns Behandelnden hilft eine Werteerklärung, unsere Patientinnen und Patienten besser kennenzulernen, ihren Willen einzuschätzen und in konkrete medizinische Massnahmen zu übersetzen. Neben einer Pluralität in der Gesellschaft erleben wir auch eine zunehmende Vielfalt an medizinischen Behandlungs- und Handlungsmöglichkeiten, auch wenn es um den Einsatz oder das Unterlassen von lebensverlängernden Massnahmen geht. Die revidierte Patientenverfügung der FMH berücksichtigt dies, indem in einer ausführlichen Wegleitung die einzelnen Massnahmen detailliert und doch verständlich erläutert werden. Für medizinische Laien ist es schwierig, sich vorzustellen, wie eine Reanimation abläuft – es ist nicht wie im Kinofilm – oder wie die Chancen sind, mit wiederhergestellter Gesundheit eine kritische Notfallsituation zu überstehen. Auch wie es auf einer Intensivstation aussieht oder welche Behandlungen dort zur Anwendung kommen, ist schwer vorstellbar. Die differenzierte Festlegung eines Behandlungsziels wird dazu beitragen, dass der Wille der verfügenden Person unmissverständlich in die von ihr gewünschten Behandlungsmassnahmen übertragen wird.

Wunsch nach Selbstbestimmung

Immer deutlicher fordern Bürgerinnen und Bürger auch in medizinischen Belangen als oberste Maxime das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstmanagement. Auf Augenhöhe mit medizinischem Fachpersonal möchten sie, was ihre eigene Gesundheit anbelangt, Verantwortung tragen. Ich kann sie verstehen. Denn auch mir geht es so. Gewiss benötigen wir alle in gewissen Situationen die Beratung des entsprechenden medizinischen Fachpersonals. Die Entscheidung über die Richtung wollen wir jedoch selber treffen. Die Revision der Patientenverfügung der FMH trägt diesem gesellschaftlichen Wandel Rechnung. Den Wunsch nach Selbstbestimmung erlebe ich als Ärztin vermehrt auf jeder Visite und in vielen Begegnungen. Und ich bin froh darüber. Denn gemeinsam mit selbstbestimmten Patientinnen und Patienten, die Selbstmanagement positiv verstehen, können wir sinnvoll und nachhaltig geeignete Therapieformen oder Behandlungen festlegen.

Ganzheitliche Gesundheit

In Holland ist man mit dem wissenschaftlich fundierten und gezielten Erfassen der patientenzentrierten Sicht auf Gesundheit und Werte schon weiter. Im «Institute For Positive Health» hat das Team um Frau Dr. Machteld Huber nach 30 Jahren Forschung zu einem umfassenderen und patientenzentrierten Gesundheitsbegriff ein Spinnennetz-Diagramm mit sechs relevanten Dimensionen entwickelt: körperliche Funktionen, mentales Wohlgefühl, Sinngebung, Lebensqualität, Partizipation und tägliches Leben. Das Diagramm stellt einen Spiegel dar, wie wir über uns selbst und unser Wohlergehen in den unterschiedlichen Dimensionen nachdenken und wo wir selbst unseren Schwerpunkt für Verbesserungen setzen. Es geht dabei nicht darum, was die Patientin oder der Patient in den Augen der Ärzteschaft, Gesundheitsökonomen, Versicherer und Politiker tun soll, sondern darum, was sie oder er selbst tun will. Mit dieser visuellen Darstellung der Gesundheit im ganzheitlichen Sinne können behandelnde Gesundheitsfachpersonen rasch einen Überblick gewinnen, wo die Präferenzen, Probleme und Ressourcen liegen und was aus Patientenoptik angepackt werden soll. Das Instrument dient dazu, in einer ergebnisoffenen Begegnung den mutmasslichen Willen unserer Patientinnen und Patienten zu erfassen, ihnen beratend zur Seite zu stehen und sie entsprechend zu begleiten. In diesem Kontext der Selbstbestimmung sehe ich auch die revidierte Patientenverfügung FMH als Instrument bei Urteilsunfähigkeit den eigenen Willen kundzutun, damit wir im Sinne unserer Patientinnen und Patienten handeln können.
Jana Siroka
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes und Departementsverantwortliche Stationäre Versorgung und Tarife
Abbildung eines ganzheitlichen Gesundheitsbegriffs mit sechs Dimensionen.
© Institute For Positive Health (iHP)