Fortschritte in der Krebs-Impfforschung

Wissen
Ausgabe
2022/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21122
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(43):72-73

Publiziert am 25.10.2022

Therapeutische ImpfstoffeDer Europäische Erfinderpreis 2022 wurde im Juni an die Forscherinnen Madiha Derouazi und Elodie Belnoue verliehen. Damit wird eine Innovation gewürdigt, hinter der zehn Jahre Arbeit steckt: ein therapeutischer Impfstoff mit belegter Wirksamkeit beim kolorektalen Karzinom.
Herausforderungen gibt es im Kampf gegen den Krebs reichlich. Forschende, Labors und Institutionen auf der ganzen Welt prüfen neben der Zelltherapie auch diverse andere Strategien. Einer der jüngsten Forschungszweige befasst sich mit einem mRNA-Impfstoff, der über Liposomen in die Lymphbahn verabreicht wird. Der vom Europäischen Patentamt (EPA) verliehene Europäische Erfinderpreis 2022 wirft nun ein Schlaglicht auf eine weitere vielversprechende Strategie: Die Schweizer Biotechnologie-Ingenieurin Madiha Derouazi und ihre französische Kollegin, die Immunologin Elodie Belnoue, haben die «Technologieplattform KISIMA für die Herstellung therapeutischer Impfstoffe zur Behandlung verschiedener Krebsarten» entwickelt, wie das EPA angibt.

Eine Plattform zur Verbindung dreier Komponenten

Die Plattform dient dazu, drei Grundkomponenten eines therapeutischen Impfstoffs in einem einzigen chimären Molekül zu vereinen, das die bereits etablierten Therapien – Chirurgie, Chemotherapie oder Strahlentherapie – ergänzen soll. Madiha Derouazi erklärt das Prinzip: «Die erste Komponente ist ein Peptid-Vektor, der das ausgewählte Antigen in die Zellen schleust. Die zweite Komponente ist ein Adjuvans in Form einer Proteinsequenz, die dem Immunsystem eine Gefahr signalisiert und es so aktiviert. Die dritte Komponente ist ein Antigen, das dem Immunsystem der geimpften Person hilft, «massgeschneiderte» Reaktionen auszulösen, einschliesslich der Aktivierung von zytotoxischen T-Lymphozyten («T-Killerzellen»), die gegen den Tumor gerichtet sind und das Rezidivrisiko verringern können.»
Bei diesem Ansatz, so fasst es die Ingenieurin zusammen, übernehme das Immunsystem die Rolle des «Medikaments». Die Forscherin zitiert die Beobachtungen des Chirurgen William B. Coley. Dieser hatte bereits in den 1890er Jahren eine Schrumpfung von Tumoren bei Krebs-Betroffenen festgestellt, die gleichzeitig an einer bakteriellen Infektion litten. Medizinische und wissenschaftliche Fachkreise träumen schon lange davon, unser Immunsystem gegen Krebs «aufzurüsten», das heisst, Immunzellen so zu programmieren, dass sie Tumorzellen erkennen und zerstören und das Risiko von Metastasen verringern können.
Madiha Derouazi
studierte Biologie in Genf und erwarb einen Master in Biotechnologie an der Technischen Universität Berlin. 2005 promovierte sie an der EPFL und absolvierte ein Postdoktorat am CNRS in Frankreich. (Foto: liliroze)

Erfolgversprechende erste Ergebnisse, aber ...

Viele Krebsarten sind jedoch in der Lage, der Erkennung durch unser Immunsystem zu entgehen und unsere natürlichen Abwehrkräfte zu unterdrücken. Daher waren Checkpoint-Inhibitoren in der Immunologie eine der bahnbrechenden Entwicklungen des letzten Jahrzehnts. Solche Wirkstoffe «blockieren» den Mechanismus, mit dem sich Tumoren dem Zugriff des Immunsystems entziehen. «Dank der Checkpoint-Inhibitoren konnte sich die Immuntherapie etablieren − trotz einer gewissen Skepsis vonseiten der Onkologen», sagt Madiha Derouazi. Frühere Versuche mit Impfstoffen stiessen auf zwei weitere Hindernisse: Sie konnten keine ausreichend starke Immunantwort induzieren oder sie zeigten nur bei einer sehr begrenzten Anzahl von Geimpften nachweislich positive Wirkungen (siehe Kasten).

«Es gibt noch viel zu tun»

Was halten die am Kampf gegen Krebs beteiligten Schweizer Institutionen und Organisationen von der KISIMA-Plattform? Welche Wirksamkeit darf man in naher Zukunft unter Praxisbedingungen erwarten? Auf Anfrage antwortet die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Onkologie ohne Angabe von Gründen, dass sie sich zu diesem Thema nicht äussere. Am CHUV erinnert Prof. Lana Kandalaft, Leitende Ärztin des Zentrums für experimentelle Therapien der Abteilung für Onkologie mit Verbindung zum Ludwig Institute for Cancer Research, an die jüngsten Bemühungen um die Entwicklung neuer und hochwirksamer therapeutischer Impfstoffe: «Impfstoffe haben sich bisher bei mehreren Krebsarten als eine sichere und sinnvolle Option erwiesen, mit sehr vielversprechenden Ergebnissen und gutem klinischem Ansprechen bei etwa 10–15% der behandelten Patientinnen und Patienten. Trotzdem bleibt noch viel zu tun, um die Behandlungsergebnisse mit den Impfstoffen zu verbessern, ihre Anwendung auf andere Krebsarten auszuweiten und den Zugang der Betroffenen zu dieser Therapie zu verbessern, die bislang noch weitgehend experimentell und auf explorative klinische Studien beschränkt ist. Die Arbeiten von Madiha Derouazi und Elodie Belnoue gehen genau in diese Richtung: Ihre neue Impfstoffformulierung ermöglicht eine einfachere Herstellung, hat sich im Hinblick auf ihre klinische Wirksamkeit als sehr vielversprechend erwiesen und eignet sich speziell bei einem äusserst aggressiven Tumortyp, für den die Behandlungsmöglichkeiten derzeit sehr begrenzt sind.»
Seit 2019 werden mit der KISIMA-Plattform klinische Studien bei Darmkrebs-Betroffenen durchgeführt. «Die ersten Ergebnisse haben die grundsätzliche Wirksamkeit bestätigt, die mittlerweile anerkannt ist», so Madiha Derouazi. Ausserdem habe sich «eine sehr starke Gedächtnisreaktion» gezeigt. Die Forscherin aus Genf weist auf weitere Besonderheiten der KISIMA-Plattform hin: Sie könnte dazu dienen, wahlweise, je nach Krebsart, verschiedene Antigene unterschiedlicher Grössen verimpfbar zu machen. Derouazi denkt dabei an mögliche Mehrfachkombinationen aus Checkpoint-Inhibitoren, Viren und Proteinen.
Die Herausforderungen bestehen nun darin, die Wirksamkeit bei einem breiteren Spektrum von Populationen auf verschiedenen Kontinenten nachzuweisen und anschliessend die Anwendung auf andere Krebsarten auszuweiten. Entwickelt wurde die 2015 patentierte KISIMA-Plattform über einen Zeitraum von fast zehn Jahren von Madiha Derouazi und ihrem Team in dem 2012 von ihr selbst gegründeten Start-up-Unternehmen Amal Therapeutics, das aus den Universitätskliniken Genf (HUG) und der Universität Genf (Unige) hervorging. Das Start-up wurde 2019 von der deutschen Boehringer Ingelheim Gruppe übernommen.
Cancer research
Mahida Derouazi forscht seit über zehn Jahren an einem therapeutischen Impfstoff gegen Krebs.
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