Software als Medizinprodukt – Informationen für die Ärzteschaft?

Aktuell
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21131
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):28-31

Affiliations
a Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich; b Dr. rer. biol. hum., Abteilungsleiter Digitalisierung / eHealth FMH

Publiziert am 11.10.2022

Medizinprodukte-SoftwareBei Medizinprodukten denkt man zuerst an Röntgenapparate oder Operationsbesteck. Wichtig ist aber auch die Software mit medizinischer Zweckbestimmung. Insbesondere seit digitale Gesundheits-Apps im diagnostischen und therapeutischen Bereich eingesetzt werden, beschäftigen sich Hersteller, Aufsichtsbehörden und Gerichte intensiver denn je mit Medizinprodukte-Software.
Software, deren Anwendung einem medizinischen Zweck dient, ist rechtlich gesehen ein Medizinprodukt. Angesichts der Möglichkeiten, welche die Digitalisierung in der Medizin bietet, ist nicht immer so klar, ob es sich um ein Medizinprodukt handelt, wie beispielsweise bei einem Implantat. Für die Leistungserbringer wie Ärztinnen und Ärzte ist es aber wichtig zu wissen, wann eine Software ein Medizinprodukt ist; denn dies hat rechtliche Konsequenzen.

Medizinprodukte-Software im Fokus

Der Geltungsbeginn der EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, «MDR») und deren Nachvollzug in der Schweiz im Heilmittelgesetz («HMG») und in der Medizinprodukteverordnung («MepV») per 26. Mai 2021 haben die medizinprodukterechtlichen Anforderungen an Software erneut in den Fokus gerückt. Dies hat mehrere Ursachen:
Die geschilderten Entwicklungen haben zu Verunsicherung geführt, namentlich auch bei Leistungserbringern wie Ärztinnen und Ärzten, die Medizinprodukte-Software beschaffen oder betriebsinterne Eigenentwicklungen verwenden. Die gescheiterte Nachführung des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen zwischen der Schweiz und der EU (Mutual Recognition Agreement, «MRA») im Bereich der Medizinprodukte schafft zusätzlich Rechtsunsicherheit.

Was ist Medizinprodukte-Software?

Längst nicht jedes Computerprogramm, das im Gesundheitsbereich eingesetzt wird, ist ein Medizinprodukt. Damit eine Software unter die entsprechende Regulierung fällt, muss sie eine medizinische Zweckbestimmung haben (Artikel 4 Absatz 1 HMG; Artikel 3 Absatz 1 MepV). Eine medizinische Zweckbestimmung ist dann gegeben, wenn patientenbezogene Daten maschinell verarbeitet und dadurch ein medizinisch indiziertes Ergebnis für eine bestimmte Patientin oder einen bestimmten Patienten erzeugt wird. Eine mobile App, die Glukosewerte über einen Sensor misst, ist deshalb ein Medizinprodukt. Dasselbe gilt für einen Kalkulator, mit dem sich individuelle Dosierungen für Medikamente berechnen lassen. Ein Klinikinformationssystem, das Funktionen für die Erfassung der Krankengeschichte, die Tarifberechnung sowie Termin- und Ressourcenmanagement bietet, ist demgegenüber kein Medizinprodukt [1].
Primär verantwortlich für die Konformität der Medizinprodukte-Software ist der Hersteller (Artikel 46 Absatz 1 HMG). Er muss entscheiden, ob sie als Medizinprodukt gilt (Qualifizierung) und in welche Risikoklasse sie fällt (Klassifizierung). Rechtskonforme Medizinprodukte werden mit einer Konformitätskennzeichnung (CE-Markierung) versehen. Bei Medizinprodukte-Software mit geringem Risiko (zum Beispiel einer App zur Empfängnisregelung), die in Klasse I eingestuft wird, genügt eine Selbstdeklaration des Herstellers. Die meisten Software-Anwendungen fallen allerdings in eine höhere Risikoklasse (Klassen IIa, IIb oder III). In diesen Fällen muss die Konformität der Medizinprodukte-Software durch eine akkreditierte Zertifizierungsstelle (sogenannte Notified Body) bescheinigt werden.
Auch selbst entwickelte Software kann eingesetzt werden, sofern die damit zusammenhängenden Regelungen beachtet werden.
© Blankstock / Dreamstime

Eigenentwicklungen

Die revidierte Medizinprodukteverordnung führt nach dem Vorbild der MDR Erleichterungen für Gesundheitseinrichtungen (zum Beispiel Spitäler, Ambulatorien, Pflegeheime, medizinische Labors, Apotheken) ein, die selbst Medizinprodukte zur eigenen Verwendung entwickeln. Art. 9 MepV hat folgenden Wortlaut:
«1 Produkte, die innerhalb von Gesundheitseinrichtungen hergestellt und ausschliesslich dort verwendet werden, gelten als in Betrieb genommen. Für solche Produkte gelten die einschlägigen grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen gemäss Anhang I EU-MDR, nicht aber die weiteren Anforderungen dieser Verordnung, sofern die Voraussetzungen nach Artikel 5 Absatz 5 Buchstaben a–h EU-MDR erfüllt sind.
2 Absatz 1 gilt nicht für im industriellen Massstab hergestellte Produkte.»
Die zitierte Ausnahmeregelung besagt im Kern, dass Gesundheitseinrichtungen bei der Inbetriebnahme von Eigenentwicklungen zwar die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen für Medizinprodukte erfüllen müssen, von den weiteren medizinprodukterechtlichen Vorschriften aber dispensiert sind. Insbesondere entfällt die Konformitätsbewertung. Ersatzweise gelten jedoch gewisse allgemeine Grundsätze der medizinprodukterechtlichen Compliance:
Um eine Umgehung der Medizinprodukteregulierung zu verhindern, dürfen Eigenentwicklungen nur innerhalb der Gesundheitseinrichtung verwendet werden, die das Produkt hergestellt hat. Weiter muss die Gesundheitseinrichtung plausibel darlegen, dass die Eigenentwicklung nicht durch ein marktgängiges Ersatzprodukt substituiert werden kann. Ist ein solches verfügbar, muss aufgezeigt werden, inwiefern es das zielgruppenspezifische Leistungsniveau der Eigenentwicklung nicht zu erreichen vermag. Das Ergebnis dieser Abklärung ist zu dokumentieren.

Beschaffung und Verwendung

Die Pflichten der Gesundheitsfachpersonen, die Medizinprodukte-Software beschaffen und für die Behandlung verwenden, sind je nach Konstellation unterschiedlich:
Ist die verwendete Medizinprodukte-Software in der Schweiz durch den Hersteller oder einen Importeur bereits in Verkehr gebracht worden, dürfen Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich von deren Konformität ausgehen. Die allgemeine heilmittelrechtliche Sorgfaltspflicht gemäss Artikel 3 HMG auferlegt ihnen aber immerhin die Verantwortung zu prüfen, ob die verwendete Medizinprodukte-Software über eine Konformitätskennzeichnung (CE-Markierung) verfügt.
Was aber gilt, wenn eine CE-Markierung fehlt? Nicht jede Software mit Gesundheitsbezug ist ein Medizinprodukt, weshalb schwierige Abgrenzungsfragen entstehen können. Ärztinnen und Ärzte sind im Zweifelsfall gehalten, weitere Abklärungen zu treffen. Wer vorsätzlich oder fahrlässig ein Medizinprodukt verwendet, das über kein Konformitätskennzeichen verfügt, macht sich strafbar.
Gerade bei Software ist eine Direktbeschaffung aus dem Ausland nicht ungewöhnlich, insbesondere wenn sie über ein Downloadportal des Herstellers oder einen App Store bezogen wird. Sofern eine Ärztin oder ein Arzt ein Medizinprodukt aus dem Ausland einführt und direkt verwendet, findet kein Inverkehrbringen in der Schweiz statt. Artikel 70 Absatz 1 MepV auferlegt in solchen Fällen dem Direkteinkäufer zusätzliche Sorgfaltspflichten. Die Vorschrift lautet:
«1 Wer als Fachperson ein Produkt aus dem Ausland, ohne es in Verkehr zu bringen, direkt anwendet, ist für die Konformität des Produkts verantwortlich. […]»
Es muss mithin sichergestellt sein, dass solche Medizinprodukte-Software mit einem Konformitätskennzeichen versehen und das Konformitätsbewertungsverfahren korrekt durchgeführt worden ist. Darüber hinaus müssen sich Ärztinnen und Ärzte im Klaren sein, dass niemand in der Schweiz für die Produktbeobachtung zuständig ist. Entsprechend steigen die Haftungsrisiken.

Übergangsfristen und Erleichterungen

Mit dem Scheitern der Nachführung des MRA sind verschiedene Erleichterungen eingeführt worden, damit der Marktzugang von Medizinprodukten in der Schweiz möglichst sichergestellt bleibt. So wurden verschiedene Produktkennzeichnungspflichten etwas gelockert.
Es kommt häufig vor, dass eine Medizinprodukte-Software, die unter bisherigem Medizinprodukterecht noch in Klasse I eingestuft worden war, eine Höherklassifizierung erfährt. Dies betrifft insbesondere Anwendungen zur klinischen Entscheidungshilfe (Clinical Decision Support Software – «CDSS»). Für deren weitere Vermarktung gelten Übergangsfristen:
Das Übergangsregime gilt allerdings nur, solange die altrechtlichen Produkte keine wesentlichen Änderungen ihrer Auslegung und Zweckbestimmung erfahren. Bei Medizinprodukte-Software liegt die Schwelle der wesentlichen Änderung ziemlich tief, weshalb das Übergangsregime mitunter eine trügerische Sicherheit vermittelt.

Zusammenfassung

Ärztinnen und Ärzte sollten sich bei der Verwendung von Software bewusst sein, dass es sich dabei um Medizinalprodukte handeln kann. Als Medizinprodukt qualifizierte Software wird nach Risikoklassen klassifiziert. Sind sie rechtskonform, werden sie mit einer Konformitätskennzeichnung (CE-Markierung) versehen. Liegt eine CE-Markierung für ein Medizinalprodukt vor und wurde es auf dem Schweizer Markt eingeführt, dürfen Leistungserbringer grundsätzlich von dessen Konformität ausgehen und können die Software verwenden. Liegt keine CE-Markierung vor oder führt eine Ärztin, ein Arzt ein Produkt selber ein (Direktbeschaffung), gebietet die Sorgfaltspflicht weiterführende Abklärungen zu treffen, bevor die Software zum Einsatz kommt.
Gilt eine Software als Medizinprodukt, so hat das rechtliche Konsequenzen.
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1 Auf der Webseite der FMH finden Sie weitere Informationen, anhand welcher Ärztinnen und Ärzte erkennen können, ob eine Medizinprodukte-Software vorliegt: https://www.fmh.ch/samd-d