Mengenausweitung der Gesundheitspolitik

Kommentar
Ausgabe
2022/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21134
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):26-27

Publiziert am 11.10.2022

AdministrationsspiraleHat ein Dorf einen Juristen, geht dieser pleite, hat ein Dorf zwei Juristen, werden beide reich. So einfach formuliert der Volksmund die Tatsache, dass es Tätigkeiten gibt, die ein Gegenüber brauchen. Dies gilt leider nicht nur für Juristen und Juristinnen, sondern zum Beispiel auch für viele Verwaltungsangestellte.
Die Fülle an Gesetzesvorlagen macht die Gesundheitspolitik zunehmend intransparent.
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Es sollte uns darum zu denken geben, dass mittlerweile jede sechste Person in der Schweiz für den Staat arbeitet [1]. Mit 39 729 Mitarbeitenden haben wir heute mehr Bundesangestellte als berufstätige Ärzte und Ärztinnen [2]. Das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) wuchs seit der Übernahme durch Bundesrat Berset im Jahr 2012 um rund 500 Vollzeitstellen beziehungsweise 24 Prozent [2]. Allein das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beschäftigt heute rund 800 Spezialistinnen und Spezialisten [3]. Dass unsere Verwaltungen immer grösser und akademischer werden, erhöht nicht nur die Kosten für die Steuerzahlenden. In der FMH erleben wir jeden Tag noch viel weitreichendere Auswirkungen dieser Entwicklung, denn Administration produziert vor allem Administration: Diese staatlichen Strukturen beschäftigen nicht nur sich selbst – sie beschäftigen vor allem andere, weil sie immer mehr Gesetze, aber auch Studien, Gremien oder Empfehlungen produzieren, die Arbeit für andere Akteure verursachen.

Über 500 Seiten Gesetzesrevisionen …

Wie die Arbeit der Ämter noch mehr Arbeit bei Dritten produziert, lässt sich beispielhaft an den beiden Kostendämpfungspaketen des Bundesrats aufzeigen, einschliesslich des daraus herausgelösten indirekten Gegenvorschlags zur Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei. Allein die zentralen Kerndokumente dieser Gesetzesrevisionen umfassen über 550 Seiten mit Gesetzesentwürfen und Erläuterungen. Wer darüber hinaus auch die Grundlagen dieser Gesetzespakete kennen möchte, muss noch hunderte weitere Seiten vom Bund publizierter Analysen und Berichte lesen. Und nach dieser umfangreichen Lektüre sind Sie lediglich über drei der aktuell 21 hängigen Revisionsprojekte des EDI im Bereich «Krankenversicherung» [4] informiert.

… folgen 5000 Seiten Stellungnahmen

All diese Texte müssen nicht nur von vielen hoch qualifizierten Bundesangestellten geschrieben werden. Sie müssen vor allem auch von vielen Angestellten der Stakeholder gelesen werden. Unzählige Berufsverbände, Patientenorganisationen, Versicherer, Kantone, Vertreter der Industrie et cetera müssen die komplexen Entwürfe durcharbeiten und auf ihre möglichen Auswirkungen in der Praxis überprüfen. Dafür benötigen sie Expertise, manchmal auch externe Gutachten und in jedem Fall viel Arbeitszeit bis Positionen entwickelt und Stellungnahmen geschrieben, eventuell auch übersetzt und kommuniziert sind. Zum ersten Kostendämpfungspaket wurden 150, zum zweiten Kostendämpfungspaket sogar 328 solcher Stellungnahmen verfasst, mit insgesamt über 5000 Seiten. Wenige der hier investierten unzähligen Arbeitsstunden – nämlich diejenigen der Kantone – wurden steuerfinanziert. Die allermeisten dieser Stellungnahmen mussten aus anderen Ressourcen bestritten werden, nämlich denen der Leistungserbringerverbände, der Patientenorganisationen, der Krankenkassen, der Konsumentenverbände und von vielen anderen mehr.

… deren Wirkung unsicher ist

Der aufwändige Einsatz der Akteure für praxistaugliche Gesetzesvorlagen wird jedoch nur gelegentlich berücksichtigt. So wurden in der Vernehmlassung des zweiten Kostendämpfungspakets sowohl die «Zielvorgaben» als auch die «Erstberatungsstellen» laut Bund gleichermassen «von einer deutlichen Mehrheit abgelehnt» [5]. Während der Bund die Erstberatungsstelle deswegen fallen liess, legte er die Kostenziele dem Parlament trotzdem als indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative vor.
Eine andere folgenreiche Regulierung des zweiten Kostendämpfungspakets wurde sogar erst nach der Vernehmlassung weiter ausgebaut. Wo «koordinierte Versorgung» draufsteht, steckt nun endgültig «Staatsadministration» drin. So möchte der Bundesrat nun fördern, dass ambulante Leistungserbringer angestellt in neuen, staatlich orchestrierten und finanziell bevorteilten «Netzwerken» arbeiten. Versicherte, die sich bis jetzt gegen ein besonderes Versicherungsmodell im Sinne der bestehenden Netzwerkstrukturen und mit Prämienermässigung entschieden haben, sollen damit einen «besseren Zugang» zur koordinierten Versorgung erhalten – oder auch zwangsbeglückt werden. Bereits sechs Wochen nach Publikation der komplexen Regulierungspläne, die stark in die bestehende ambulante Versorgungsstruktur eingreifen, erfolgen nun die ersten Hearings im Parlament. So müssen umfangreiche Vorlagen zu tiefgreifenden Systemeingriffen auch noch unter starkem Zeitdruck analysiert werden. Dies strapaziert die Infrastrukturen aller Beteiligten – und verbessert die Qualität der Gesetzgebung sicher nicht.

Gesetzesflut schafft Intransparenz …

Mit der Fülle neuer Gesetzesvorlagen wird die Gesundheitspolitik auch zunehmend intransparent. Selbst wer sich beruflich und intensiv mit dem ohnehin bereits komplexen Gesundheitswesen beschäftigt, kann kaum noch übersehen, welche Reformen aktuell wo stehen oder abschätzen, welche Auswirkungen eine Gesetzesrevision hätte und welche Wechselwirkungen mit anderen Gesetzesvorlagen zu erwarten wären. Von der gut informierten Parlamentarierin über den spezialisierten Journalisten bis hin zur Stimmbürgerin: Für alle wird es immer schwerer, die Bedeutung der mitunter sehr komplexen Revisionen einzuordnen.

… und führt weg von Praxis und Patienten

Das wachsende Ungleichwicht zwischen den Ressourcen des Staates und denen der Akteure des Gesundheitswesens hat auch zur Folge, dass die Stimmen aus der Praxis immer weniger Gehör erhalten werden. Staatliche Aktivitäten wie die immer schneller arbeitende Gesetzesmaschinerie drängen die Akteure des Gesundheitswesens in eine immer reaktivere Rolle. Dies hat Folgen für unsere Gesundheitsversorgung: Wer in Ämtern Gesetzesentwürfe schreibt, hat hohe juristische Expertise, aber noch nie eine Patientin betreut. Wer am Reissbrett staatlich orchestrierte Netzwerke plant, musste noch nie eine komplexe Behandlung koordinieren. Fehlt der Praxis-Check durch die Akteure, steigt das Risiko für theoretisch zwar nachvollziehbare, praktisch aber unnütze oder sogar schädliche Regulierungen.

Mikroregulierung und -administration

Die immer kleinteiligere Regulierung durch immer mehr Gesetze verursacht im Gesundheitswesen auch eine ständige Zunahme der Administration. Denn der höchste Aufwand entsteht erst, wenn ein gut gemeintes Gesetz in eine gute Praxis überführt werden muss. Häufig beginnt spätestens mit der Verordnung der administrative Overkill. Bevor ein Qualitätsgesetz die Qualität fördert und ein Zulassungsgesetz die Angemessenheit der Versorgung, fördern diese Gesetze zunächst einmal die Bürokratie. Sämtliche Akteure des Gesundheitswesens haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine wachsende Mikroregulierung und daraus folgende Mikroadministration erlebt. Allein für die Zunahme des Dokumentationsaufwands von Ärztinnen und Ärzten bräuchte es in der Schweiz etwa 100 neue Arztstellen pro Jahr. Diese Zeit kostet Geld, demotiviert junge Gesundheitsfachpersonen und fehlt für die Patientinnen und Patienten.

Mehrwert entsteht durch Gleichgewicht

Zwei reiche Juristen in einem Dorf sind eine gute Sache, solange diese einen Mehrwert für die Dorfbevölkerung generieren. In diesem Sinne braucht es die Arbeit der Behörden genauso wie den Einsatz der Stakeholder für ein gutes und nachhaltig finanzierbares Gesundheitswesen. Ein Mehrwert entsteht daraus jedoch nur in einem gesunden Gleichgewicht – ohne dass eine der Seiten durch die andere getrieben und gelähmt wird. Das Dorf profitiert nur dann, wenn sich beide Seiten zwar herausfordern, aber auch gegenseitig ergänzen, korrigieren, befruchten und austarieren – um letztlich gemeinsam gute Lösungen zu finden.
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH
1 20 Minuten; 9. September 2022; «Das ist extrem» – jeder Sechste arbeitet für den Staat www.20min.ch/story/das-ist-extrem-jeder-sechste-arbeitet-fuer-den-staat-457824011318
2 Aargauer Zeitung, 9. November 2021; Bundesverwaltung wächst und wächst: Jetzt beschäftigt sie über 40‘000 Beamte; URL: www.aargauerzeitung.ch/schweiz/big-government-bundesverwaltung-waechst-und-waechst-jetzt-beschaeftigt-sie-ueber-40000-beamte-ld.2211309#back-order
5 EDI, BAG. Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung: Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2 als indirekter Gegenvorschlag zur eidgenössischen Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen (Kostenbremse-Initiative)». Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung. Bern, 28. April 2021