Keine Dumping-Rehabilitation

Organisationen
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21140
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):38-39

Affiliations
a Dr. med., Präsident der Vereinigung Psychosomatischer Chefärzt*innen der SAPPM (VPC); b PD Dr. med., Präsident der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM)

Publiziert am 07.12.2022

Psychosomatische Medizin Ein Vorschlag der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) stösst auf Kritik. Der Umstrukturierungsplan der GDK sieht eine weitere psychosomatische Rehabilitationsart vor. Die Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) erklärt, warum dies als Fehlentwicklung einzustufen ist.
Stress- und Schmerzerkrankungen sind die beiden psychosomatischen Hauptdiagnosegruppen, die den Rehabilitationsbedarf der psychosomatischen Medizin in der Schweiz ausmachen. Krankenkassenstudien zeigen, dass stressassoziierte Leiden bereits vor Ausbruch des Coronavirus zugenommen hatten [1]. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hielt in ihrem neusten Mental Health Report [2] fest, dass die Pandemie weltweit zu einem starken Anstieg stressassoziierter Krankheiten geführt hat und fast eine Milliarde Menschen davon betroffen ist. Unbehandelt führen Stress- und Schmerzerkrankungen oft zu langandauernden oder auch irreversiblen Arbeitsausfällen und entsprechenden Mehrkosten [3].
Eine optimale psychosomatische Rehabilitation ist multimodal und nicht unilateral ausgerichtet.
© Amy Walters / Dreamstime

Qualität sichern und ausbauen

Schmerz- und Stresserkrankungen führen zu physiologischen und psychologischen Veränderungen, die sich auf den gesamten menschlichen Organismus auswirken. Die psychosomatische Rehabilitation ist ein Paradebeispiel einer multimodalen Behandlung, welche medizinisch-ärztliche, bewegungstherapeutische, psychologische und pflegerische Therapien integriert und damit vorab die Verbesserung der Selbstkompetenzen der Patientinnen und Patienten ansteuert.
Der interdisziplinäre Schwerpunkttitel in Psychosomatischer Medizin stellt eine mindestens zweijährige Zusatzqualifikation zu einem klassischen Facharzttitel dar. 60% der Titelträgerinnen und -träger in der Schweiz tragen einen Facharzttitel in Innerer Medizin. Diese Doppelqualifikation mit dem Zusatztitel in Psychosomatischer Medizin bürgt für fundierte somatische Fachkenntnisse, ausgeweitet auf funktionelle körperliche Erkrankungen, sowie Fachkompetenzen hinsichtlich krankheitsrelevanter psychosozialer Kofaktoren und Leiden.

Jüngste Fehlentwicklung

Das ärztliche Fachorgan für Psychosomatische Medizin (SAPPM) sieht sich schweizweit für eine gute Behandlungsqualität in seinem Fachbereich verantwortlich. Jüngste Entwicklungen im Kontext des Spitalplanungs-Leistungsgruppenkonzeptes (SPLG) lassen jedoch aufhorchen. Das SPLG ist ein ursprünglich von der Gesundheitsdirektion Zürich entwickeltes Klassifikationssystem, in welchem medizinische Leistungen zu Leistungsgruppen zusammengefasst werden. Die Zuteilung der medizinischen Leistungen zu den Leistungsgruppen erfolgt anhand des Schweizerischen Operationskatalogs (CHOP) und des internationalen Diagnoseverzeichnisses (ICD). Seit 2011 empfiehlt die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) den kantonalen Gesundheitsdepartementen die Anwendung des SPLG. Nach der Akutmedizin und Psychiatrie wird nun auch die Rehabilitationsmedizin in diesem Sinne umstrukturiert.
Vor wenigen Monaten stand von Seiten der GDK ein Umstrukturierungsvorschlag betreffend der psychosomatischen Rehabilitation zur Diskussion: Im Rahmen des Umbaus soll unter anderem eine weitere Rehabilitationsart namens «Rehabilitation somatoformer Störungen und chronischer Schmerzen» (SOM-Reha) an Stelle der psychosomatischen Rehabilitation eingeführt werden. Trotz dezidierter Gegenempfehlung seitens der FMH, regionaler Verbände (zum Beispiel Vaka), der Vereinigung der Chefärzt:innen Psychosomatischer Kliniken (VPC) sowie der Psychosomatischen Fachgesellschaft der Schweiz (SAPPM) hielt die GDK an diesem Vorschlag fest. Es handelt sich dabei um einen rein gesundheitspolitischen, spitalplanerischen Entscheid, der leider gänzlich an der Versorgungsrealität vorbei getroffen wurde und daher mit Nachdruck durch die genannten Fachgesellschaften abgelehnt wird.

Rückschritt «SOM-Reha»

Diese nun von ein paar deutschschweizerischen Kantonen an Stelle der psychosomatischen Reha neu etablierte «SOM-Reha» ist einerseits durch eine Herabstufung der zugelassenen Indikationen gekennzeichnet (Begrenzung nur auf das Kapitel somatoforme Störungen F45 der ICD-10-Klassifikation). Andererseits erachten wir es als ein besonderes Alarmzeichen dieser «SOM-Reha», dass zu deren Durchführung nicht mehr zwingend eine ärztliche Qualifikation im Sinne eines Schwerpunkttitels in Psychosomatischer Medizin vorausgesetzt wurde. Die «SOM-Reha» gleicht einem Dumping-Gegenentwurf gegenüber der bisherigen psychosomatischen Rehabilitation.

Progressiv anstatt anachronistisch

Inhaltlich-konzeptuell fusst die «SOM-Reha» zudem auf einem bedenklichen Anachronismus: Weltweit wird aktuell das WHO-Krankheitsklassifikationssystem ICD-11 eingeführt. Die «SOM-Reha» bezieht sich indessen auf das gänzlich überholte Kapitel (F45) der «somatoformen Störungen» des ICD-10. Das Konstrukt des «somatoformen Schmerzes», auf das die «SOM-Reha» ausgerichtet ist, wurde mit Einführung von ICD-11 abgeschafft! Die ICD-11 wehrt sich dezidiert gegen eine einseitig «psychiatrische» Interpretation chronischer Schmerzerkrankungen. Entsprechend lehnt auch die Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) diese Retro-Konzeption der «SOM-Reha» innerhalb der eigenen Rehabilitationslandschaft entschieden ab. Notwendig wäre es, progressive Konzepte zu fördern.
Die Parallel-Einführung einer weiteren Reha-Art würde die bestehende psychosomatische Rehabilitation in der Schweiz zudem fallnumerisch unnötig aufsplitten und eine einheitliche Betrachtung der Kostenstrukturen erschweren. Dieses «Splitting» der psychosomatischen Reha führt dann auch dazu, dass die klassische psychosomatische Rehabilitation zahlenmässig dezimiert erscheint. Zudem kämpfen einige psychosomatische Rehabilitationskliniken mit den finanziellen Auswirkungen der ST-Tarif-Einführung, was zu einer weiteren Limitation des Versorgungsangebotes führen kann.

Stärkung bestehender Strukturen

Die Spitalplanung muss viele Aspekte berücksichtigen. Dazu gehören die Versorgungssicherheit, den Fachkräftemangel, inner- und interkantonale politische Überlegungen, den Anspruch einer interkantonalen Koordination und vieles mehr. Die Vernehmlassungsantworten der verschiedenen Fachgesellschaften zeigen jedoch auf, dass medizinisch-fachliche Überlegungen teilweise zu kurz kommen.
Diese medizinisch-fachlichen Einschätzungen würden für die qualitative Versorgung wesentliche Impulse leisten und die Identifikation der Ärzteschaft mit deren Umsetzung garantieren.
Wir fordern die kantonalen Gesundheitsdepartemente entsprechend auf, auf das Parallel-Konstrukt der «SOM-Reha» als fachlich nicht valables Konstrukt zu verzichten und die bestehenden Psychosomatischen Rehabilitationsstrukturen zu stärken.
Um in Zukunft solche Fehlentwicklungen zu vermeiden, sollten vermehrt fachliche Inputs bei den jeweiligen Fachgesellschaften eingeholt werden. Angesichts der erwarteten Zunahme von Patientinnen und Patienten mit Stress- und Schmerzerkrankungen sollte in der Schweiz grundsätzlich mehr und nicht weniger in diesen Fachbereich investiert werden. Volkswirtschaftlich und medizinethisch ist dieser Rehabilitationszweig eines der wichtigsten Instrumente zur Prävention vor oft irreversiblen Fallumlagerungen zu Lasten der IV respektive der Sozialdienste.