Wie lebt es sich als Arzt und als Ärztin im Beruf?

Kommentar
Ausgabe
2022/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21145
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(42):28-29

Publiziert am 18.10.2022

BefragungSchweizer Ärztinnen und Ärzte haben ein weiteres Mal Stellung genommen zu den Rahmenbedingungen ihres Berufsalltags. Die Auswertung zeigt, dass uns unter anderem der steigende Administrationsaufwand stark beschäftigt.
Seit elf Jahren unternimmt die FMH repräsentative Umfragen in der Ärzteschaft zu verschiedensten Aspekten des Berufsalltages. Zentrale Felder wie administrative Tätigkeiten, Weiterbildungsbedingungen und Arbeitsbelastung werden erfragt und in einen aktuellen Kontext gesetzt. Wichtige Eckpunkte der Befragung 2022 waren zudem die Güte der Versorgungsqualität und Arbeitsumstände in Zeiten der Corona-Pandemie.
Von den 1547 Antwortenden arbeitet die Mehrzahl in der stationären Akutsomatik. In der Psychiatrie und der Rehabilitation tätige Kolleginnen und Kollegen sowie praxisambulante Medizinerinnen und Mediziner komplettierten die Bandbreite des Spektrums. In dieser SÄZ-Ausgabe präsentieren wir Ihnen ab Seite 34 Kernaussagen der diesjährigen Umfrage.

Steigender Administrationsaufwand

Lassen Sie mich aus der Fülle der Daten auf eines der immer wiederkehrenden Themenfelder besonders hinweisen: der steigende Administrationsaufwand in der Medizin. Blicken wir auf die Ebene der Gesetze und Verordnungen, sehen wir in den letzten 20 Jahren eine Verfünffachung der gesundheitspolitischen Vorlagen im Parlament. Diese resultierten in einer Verdoppelung der Gesetzestexte.
Eine derartige Zunahme der Regulierung hat Konsequenzen. Gemäss unserer Umfrage erfordert alleine das Führen der Patientenakten von den Assistenzärztinnen und -ärzten etwa drei Stunden pro Tag.
Als erfahrene Medizinerin kenne ich die Vielschichtigkeit unserer ärztlichen Tätigkeit. Eine gute Betreuung unserer Patientinnen und Patienten erfordert Raum für Gespräche für einen patientenzentrierten Einsatz unseres Fachwissens und -könnens. Dazu benötigen wir Zeit. Die Patientenversorgung wird als Kernanliegen aller Ärztinnen und Ärzte hoch gehalten, aber im Hinterkopf lauern die mit jeder Behandlung vergesellschafteten administrativen Arbeiten: Berichte schreiben für eine zeitnahe Nachbetreuung der Patientinnen und Patienten bei den Grundversorgern und Spezialisten, Krankenkassen-Anfragen beantworten, Kostengutsprachen einholen, Nachbehandlungen organisieren, Statistiken führen. Das Erste, was meist ressourcenbedingt weggelassen wird, ist die Weiterbildung. Dies akzentuierte sich laut unseren Umfragewerten in der Pandemiezeit. So manches Institut hat in der Zeit die Weiterbildung ausgesetzt. Selbst nach Beendigung der Massnahmen und nach Entspannung der Lage kehren etliche Kliniken nur zögerlich zur vertraglich vereinbarten Weiterbildung für Assistenzärzte und -ärztinnen zurück.

Hoher Effizienz- und Zeitdruck

Im stationären Setting verbringt ein Arzt oder eine Ärztin auf ein 100%-Pensum gerechnet im Mittel 56 Stunden pro Woche im Spital. Dennoch stehen die Kontakte mit seinen Patientinnen und Patienten unter einem hohen Effizienz- und Zeitdruck. Wie unsere Umfrage ergibt, steigt dieser Druck jedes Jahr und es zeigt sich das Phänomen eines chronischen Stress-Zustandes in der Ärzteschaft. Dies wiederum schlägt sich nieder in einer sinkenden Zufriedenheit der Work-Life-Balance, wie unsere Daten über die letzten zehn Jahre spiegeln. Bei den unter 40-jährigen Kolleginnen und Kollegen sind es in unserer Umfrage nur noch knapp 40 Prozent, die zufrieden mit ihrer Work-Life-Balance sind.
Die praktischen Erfahrungen von ReMed, dem Unterstützungsnetzwerk von Ärztinnen und Ärzten, bestätigen unsere Resultate: Themen wie die hohen Anforderungen an sich, beziehungsweise die eigene Arbeitsleistung und die Vereinbarkeit mit dem Privatleben überwiegen bei den zunehmend jüngeren Ärztinnen und Ärzten, die ReMed kontaktieren. Mir persönlich bereitet gemäss unseren Erhebungen auch der steigende Trend von Berichten zu Burn-out, Depression und anderen schwerwiegenden psychischen Problemen Sorge. Ein Trend, den es Ernst zu nehmen gilt, gerade auch in Zeiten des progredienten Fachkräftemangels.

Fachärztemangel

Aktuell kämpfen schweizweit fast alle Institutionen mit Schwierigkeiten, Ärztinnen und Ärzte zu finden. Natürlich gibt es fachspezifisch grosse Unterschiede, aber der Trend ist klar: Vor zehn Jahren war es ohne mehrere Jahre Berufserfahrung unwahrscheinlich, eine Stelle an einem Universitätsspital zu ergattern. Heute ist man auch in diesen Instituten froh, die Stellen irgendwie besetzen zu können.
Wir wissen aus anderen Erhebungen, zum Beispiel des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO), dass sich die jüngere Ärzteschaft – geschlechterunabhängig – ein 80%-Pensum wünscht. Dies entspricht einem durchschnittlichen 100-Prozent-Pensum in der Schweiz. Viele der jungen Kolleginnen und Kollegen fordern vehement eine 42-Stunden-Woche. Sei es über den politischen Weg oder durch vermehrte Teilzeitarbeit, der Fachkräftemangel wird mit Sicherheit zunehmen.
Zu ähnlichen Resultaten, was die administrative Last anbelangt, kommt auch die Studie «International Health Policy Survey 2019», für die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG)seit 2010 auch Schweizer Grundversorger befragt werden.
Über 60 Prozent der Schweizer Grundversorger sehen im Zeitaufwand für administrative Arbeiten ein grosses Problem. Damit stehen wir international auf Rang zwei hinter Schweden, wo 80 Prozent ein grosses Problem konstatieren. Dass es auch anders geht, ist ersichtlich am Beispiel von Norwegen. In dem Land finden nur gut elf Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte, dass sie ein Problem mit der Bürokratie haben.
Wenn man die Zahlen aus unserer Umfrage in Arbeitskraft umrechnet, kann man sagen: «Alleine die Zunahme des Aufwands für Patientendossiers erfordert jedes Jahr 100 neue ärztliche Vollzeitstellen».

Gute Rahmenbedingungen erzielen

Aufgrund dieses Impacts und der Bedeutung für jedes einzelne unserer Mitglieder analysiert die FMH in dieser Umfrage den Langzeitverlauf unserer Rahmenbedingungen. Auch um der nationalen Versorgungssicherheit Sorge zu tragen, wollen wir mit diesen repräsentativen Daten medial sensibilisieren. In nationalen Arbeitsgruppen – beispielsweise im BAG – treten wir gegen eine Microregulierung und für gute Rahmenbedingungen im Arztberuf ein. Gegenüber den zunehmenden Vorstössen im Parlament wachen wir sorgsam und mit der ganzen Expertise unserer FMH-Experten und -Expertinnen sowie unserem Rechtsdienst darüber, dass die Handhabbarkeit der gesetzlichen Vorlagen in der praktischen Umsetzung lebbar ist.
Philosophisch betrachtet kann man sagen: Alles, was existiert, besteht aus den zwei Urelementen «Leben und Form». Es ist evident, dass «Regeln und Gesetze = Form» in unserer komplexen und spezialisierten Gesellschaft unabdingbar sind. Wir müssen uns jedoch alle gemeinsam dafür einsetzen, dass nicht «die Form das Leben erstickt», sondern «die Form dem Leben dient».
Jana Siroka
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes und Departementsverantwortliche Stationäre Versorgung und Tarife
Der Administrationsaufwand wird für Medizinerinnen und Mediziner immer umfangreicher.
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