Von Freude zu Frust mit nur einem Klick

Hintergrund
Ausgabe
2022/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21155
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(43):14-17

Publiziert am 25.10.2022

KlinikinformationssystemeSchweizer Spitäler werden zunehmend digital. Doch die neuen Systeme haben ihre Tücken. Sie gelten als komplex, schwer bedienbar und im schlimmsten Fall sogar als Gefahr für die Patientensicherheit. Ein Überblick.
Der technische Fortschritt prägt auch das Berufsleben vieler Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Schweizer Spitäler und Kliniken haben in den vergangenen Jahren digitale Klinikinformationssysteme (KIS) eingeführt, um die Effizienz und Sicherheit im Arbeitsalltag zu erhöhen. Aber mit welchem Erfolg?
Insbesondere bei Errungenschaften im Bereich der elektronischen Datenerfassung ist der Grat zwischen Höhenflug und Absturz schmal. Die Gründe können bei der Technik wie auch bei den anwendenden Personen liegen. Sicher ist, dass eine nicht korrekte Funktion oder Anwendung in der Gesundheitsversorgung fatale Konsequenzen zur Folge haben kann. Für jene Leute, die mit den Systemen arbeiten und für Patientinnen und Patienten.
Eine Studie der Stiftung Patientensicherheit Schweiz von November 2020 bis März 2021 widmete sich der Effizienz und Fehleranfälligkeit von zwei in der Schweiz gängigen Systemen. Das Ergebnis ergab, «dass die in der Schweiz breit etablierten Systeme fehleranfällig und ineffizient sind und damit die Patientensicherheit sowie die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte systematisch gefährden können.» [1]
Klinikinformationssysteme gehören für viele Ärztinnen und Ärzte zum Alltag. Aber sie haben Tücken.
© Sigmund / Unsplash

Schwieriger Start in Luzern

Vereinzelte Systeme waren zumindest zu jenem Zeitpunkt nicht auf dem neuesten Stand. Zudem sehen nicht alle Userinnen und User Vorteile in der Arbeit mit digitalen Portalen. Am Luzerner Kantonsspital löste das im September 2019 in Betrieb genommene System Lukis zu Beginn nicht nur Euphorie aus. Zahlreiche Mitarbeitende bemängelten, sie könnten aufgrund des neuen Systems ihre eigentliche Arbeit nicht mehr zufriedenstellend ausführen. Die Bedienung der digitalen Plattform stelle eine Mehrbelastung dar, monierten manche, einige waren schlicht überfordert. Es wurde vereinzelt bemängelt, dass man zu viel Zeit am Rechner verbringe, was die Konzentration für die eigentliche Kernaufgabe mindern könne [2].
Stefan Hunziker, Leiter Informatik und Mitglied der Geschäftsleitung der Luks-Gruppe sagt rückblickend: «Es war ein mutiger und zukunftsweisender Entscheid, als erstes deutschsprachiges Spital das Klinikinformationssystem des amerikanischen Branchenführers Epic einzuführen. Entsprechend gross waren die mit der Einführung und Umstellung verbundenen Herausforderungen.»
Nicht wegdiskutieren lässt sich die Tatsache, dass es danach zum Ausfall einzelner Mitarbeitender im Zentrum für Intensivmedizin (ZIM) gekommen ist. Gegenüber dem Regionaljournal Zentralschweiz bestätigte ein leitender Arzt damals die Überlastung von einem Teil des Teams und auch, dass die Arbeitsabläufe mit dem System zeitintensiver seien [3].
«Dies der Einführung von Lukis zuzuschreiben, greift zu kurz», sagt Hunziker. Verschiedene Faktoren hätten damals zu den Ressourcenengpässen im Zentrum für Intensivmedizin geführt. Es habe vor allem über eine längere Zeit eine sehr starke Arbeitsbelastung infolge hoher Patientenzahlen und schwerer Krankheitsbilder geherrscht. Da es zu wenig IPS-Betten für zu viele Patientinnen und Patienten gegeben habe, die intensivmedizinisch versorgt werden mussten, sei der Druck gross gewesen.
Er räumt ein, dass die Einführung von Lukis den Mitarbeitenden sicherlich auch einiges abverlangt habe. «Über alle Berufsgruppen und Abteilungen hinweg wurde damals als typische Startschwierigkeit vor allem der zeitliche Mehraufwand als negativ empfunden, sei es für Verordnungen oder für die Terminplanung.» Der Umgang mit dem Tablet im Kontakt mit den Patienten sei zu dieser Zeit noch gewöhnungsbedürftig gewesen, weil die Prozesse und Strukturen neu waren.

Bewährungsprobe abgeschlossen

Mithilfe einer anonymen Umfrage unter den Mitarbeitenden sollten die Problemfelder ausfindig gemacht und in der Folge das System Lukis verbessert werden. Mehr als 3000 Personen haben laut Hunziker daran teilgenommen. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden der Umfrage haben laut ihm spürbare Vorteile im Arbeitsalltag festgestellt. Insbesondere dahingehend, dass man berufsgruppen- und klinikübergreifend alle Informationen zur Hand habe und mobil arbeiten könne. Seither ist viel Wasser die Reuss hinuntergeflossen, die Situation hat sich offenbar eingependelt, so erscheint es im Austausch mit Hunziker.
Das System sei heute im Spitalalltag integriert und nicht mehr wegzudenken, sagt Hunziker: «Die Ziele, mit dem System die Patientensicherheit und die Qualität zu verbessern, die Digitalisierung entscheidend voranzutreiben sowie die Fachkräfte von administrativen Arbeiten zu entlasten, sind weitgehend erreicht worden. Heute möchte wohl praktisch niemand am Luzerner Kantonsspital zum alten Datenmanagement zurückgehen. Lukis entwickelt sich zudem stetig weiter. Wir orientieren uns dazu an den Bedürfnissen des Spitalbetriebs, der Nutzerinnen und Nutzer sowie den Weiterentwicklungen des Herstellers Epic.» In der Pandemiezeit haben Luks durch den weltweiten Verbund laufend COVID-19-spezifische Erweiterungen schnell zur Verfügung gestanden, erklärt er. Seit kurzem seien zudem auch Röntgenbilder einsehbar.
«Dazu haben wir in den vergangenen drei Jahren intensiv an der Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und Hausärzten gearbeitet und in diesem Rahmen verschiedene Praxen persönlich besucht. Für den Datenaustausch zwischen Zuweisenden und dem Luzerner Kantonsspital und als Schnittstelle zum Klinikinformationssystem Lukis wurde das Portal Luks Link entwickelt», fährt Hunziker fort.
Viele Zuweisende würden heute die Vorteile von Lukis in der gemeinsamen Patientenbetreuung erkennen. Dazu gehört der einfachere Informationsaustausch. Das Luks bietet zudem Schulungen und Personalisierungen zu Luks Link an. Dies mit dem Ziel, den Zuweisenden den Arbeitsfluss so effizient und die Bedienungsoberfläche so einfach wie möglich zu gestalten. In der Zentralschweiz sind gemäss Hunziker 95 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte angeschlossen. Rund 600 Ärztinnen und Ärzte, spezialisierte Personen und Institutionen nutzen Luks Link laut Stefan Hunziker.
Seine Bilanz: «Wir arbeiten weiterhin an Verbesserungen für unsere Zuweiser und Institutionen wie Pflegeheime oder Spitex-Organisationen. Das Luks befindet sich nun drei Jahre nach dem Go-Live von Lukis. In dieser Zeit sind unzählige Optimierungen und Weiterentwicklungen erfolgt. Gleichzeitig hat unser Betrieb gelernt, mit dem System routiniert umzugehen und die vielen Vorteile zu nutzen.»
Eine Studie hat ergeben, dass die in der Schweiz breit etablierten Systeme fehleranfällig und ineffizient sind.
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Ein Generationengraben

Dem Stichwort «Routine» ist in einem anderen Zusammenhang Beachtung zu schenken. Simon Müller arbeitet in einer Klinikgruppe in der Deutschschweiz und war in einer Projektgruppe bei der Einführung eines anderen Systems beteiligt. Tatsächlich heisst er anders, er möchte aber anonym bleiben. Er arbeitet selbst im medizinischen Alltag mit dem System und schildert die Funktionalität aus seiner Sicht: «Meine Erfahrung war, dass sich die Anwender der älteren Generation beim Start etwas schwieriger taten.» Das System, es handelt sich um Kisim, sei vor über fünf Jahren eingeführt worden.
«Es bleibt spannend», sagt er und fügt hinzu: «Entscheidend ist auch, wie das System oder die Supportsysteme von den Programmierabteilungen des Software-Herstellers unterstützt und supportet werden. Unser System wird weiterentwickelt, es ist ein nie endender Lernprozess.» Es gelte auch, genau zu beobachten, wie schnell Änderungen umgesetzt werden können. Solche Momente seien entscheidend dafür, mit welcher Motivation Mitarbeitende bereit sind, sich in das System einzubringen.
Die Anwendung sei nicht ganz einfach und die stete Weiterentwicklung des Klinikinformationssystems berge Herausforderungen: «Neue Subprogrammen mit Scores, die zusätzlich ausgefüllt werden müssen, stellen im Alltag bereits wieder neue Anforderungen dar, auch wenn es sich nur um drei Klicks handelt», sagt Simon Müller. Wer keine Ahnung habe, wie man sich auf dem Portal bewegen muss und wo die einzelnen Bereiche zu finden sind, könne sich leicht verklicken: «Dann sind schnell zehn Minuten verstrichen, bis man sich wieder auf der Ausgangsposition befindet.» Die Komplexität könne zu Fehlern führen.
Seine Klinik befindet sich technisch noch nicht auf demselben Niveau wie das Luks, weil das System bis heute erst teilweise eingeführt worden sei. Es gebe immer noch Bereiche, die aufgrund der spezifischen Anforderungen noch nicht mit dem System arbeiten. Dies betreffe die Notfallabteilung, die aufgrund der Schnelllebigkeit mit speziellen Patientenanforderungen konfrontiert sei. Dort werden Zwischenlösungen praktiziert, mit eingeschränktem Nutzen.
Das laute Lamentieren über das System habe abgenommen, je mehr es weiterentwickelt wird und je mehr Supportsysteme dazukommen. Mit der elektronischen Laboranbindung und der elektronischen Röntgen-Anmeldung werde die Anwendung einfacher. «Aber es ist eine wahnsinnige Anstrengung, dort hinzukommen», sagt Simon Müller. Insgesamt aber stelle sich das digitale System als Gewinn heraus, so sein Fazit.
Simon Müller kennt nach eigener Aussage auch den Umgang mit Klinikinformationssystemen an anderen Orten. Er nennt das Beispiel eines anderen regionalen Spitalzentrums, das seinem derzeitigen Arbeitsort nicht angeschlossen ist. Dort habe bis mindestens im Sommer 2021 eine Hybridlösung existiert. Müller: «Damals wurde teilweise auf Papier und teilweise bereits im elektronischen System dokumentiert. Vor allem die Erfassung der ambulanten Patientinnen und Patienten war im digitalen System zu aufwändig. Die stationären Patienten mit einem Aufenthalt über mehrere Tage wurden jedoch im System erfasst.»

Heute neu, morgen alt

Die Beispiele zeigen, dass eine Momentaufnahme digitaler Klinikinformationssysteme schwierig ist. Was heute anwendungsunfreundlich ist, kann morgen schon weiterentwickelt sein. Was heute als Neuheit angepriesen wird, kann jedoch nach kurzer Zeit veraltet sein.
Mehrere Spitäler wollten zu diesem Thema übrigens keine Stellungnahme abgeben. Die Medienabteilung des Kantonsspitals Aarau richtete schriftlich aus: «Aktuell sind unsere Ärztinnen und Ärzte sehr ausgelastet, sodass sie aus Kapazitätsgründen abgesagt haben.»
Die Unternehmenskommunikation des Kantonsspitals St. Gallen richtete aus: «Aktuell sind wir in der Einführung eines neuen Klinikinformationssystems. Bis es final eingeführt ist und die Nutzerinnen und Nutzer es anwenden respektive beurteilen können, wird es noch eine Zeit dauern.» Aussagen zum alten System würden aus Sicht des Spitals nicht mehr ganz stimmig sein, da diese rückwärts gerichtet wären. Man könne deshalb keine Auskunftsperson zur Verfügung stellen.
Und welche Folgen hatte eigentlich die eingangs erwähnte Studie der Stiftung Patientensicherheit? Auf Anfrage teilte Mark Bächer, Leiter Kommunikation, mit: «Die Studienergebnisse stiessen auf breites Interesse. Gemäss unserem Wissensstand wurden aber bisher noch keine weiteren konkreten Handlungsmassnahmen eingeleitet, um die in der Schweiz eingesetzten KIS sicherer und effizienter zu machen.»