Die Fachkräfte gehen uns aus, bevor uns das Geld ausgeht ...

Kommentar
Ausgabe
2022/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21168
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(43):26-27

Publiziert am 25.10.2022

WorkforceMit denselben Worten wie im vorliegenden Titel habe ich am 24. März 2021 mein Editorial [1] in der Schweizerischen Ärztezeitung geschlossen. Leider komme ich nicht umhin, etwas mehr als ein Jahr später wieder daran anzuknüpfen.
Nach durchgemachter COVID-Frühlingswelle ist rund um die Erdkugel das grosse Reise- und Festivalfieber ausgebrochen, begleitet von einer ebenfalls vom Nachholbedarf getriebenen «Eventitis». Wir haben uns die Augen gerieben, überall gab es Engpässe wegen Personalknappheit: gestrandetes Reisegepäck in den Flughäfen, geschlossene Restaurants und Hotels trotz Hochsaison und dann noch Material-Engpässe aufgrund blockierter Lieferwege. «Wo sind denn nun plötzlich all die Arbeitskräfte hin?», fragen wir uns.

Mangel an Fachkräften

Da war doch was: Lockdown! Offensichtlich hat der Arbeitsmarkt all die Betroffenen absorbiert, sodass auch die Lust, wieder in die frühere Tätigkeit zurückzukehren, nicht wirklich gross zu sein scheint. Dazu kommt die Tatsache, dass jedes Jahr wieder ein weiterer geburtenstarker Jahrgang in Pension geht, der pro Kopf durchschnittlich höhere Arbeitspensen geleistet hat als die nachfolgende Generation. Diese gesellschaftliche Entwicklung ist schlicht Realität und es bringt uns nicht weiter, über Sinn und Unsinn von Pensen zu diskutieren. Wenn wir uns aber über die ärztliche Workforce Gedanken machen, und dies im Kontext der gerade publizierten MAS-Zahlen des Bundesamtes für Statistik [2], so müssen wir diesen Aspekt unbedingt mitberücksichtigen.

Wunsch nach tieferen Arbeitspensen

Die durchschnittliche ärztliche Wochenarbeitszeit beträgt aktuell 48 Stunden. Diese wird pikanterweise als Teilzeit betitelt, weil sich die Arbeitszeit nicht über fünf Tage erstreckt, sondern über weniger. Würde in der gleichen Intensität fünf Tage gearbeitet, kommen wir auf ein Vollzeitpensum von 55 Stunden pro Woche. Die Signale unserer jüngsten Jahrgänge sind klar: Es wird eine landesübliche Arbeitszeit entsprechend einer 42-Stunden-Woche als Vollzeitpensum gefordert, darauf basierend bestehen zudem Erwartungen an Teilzeitarbeit, da nebst der beruflichen Herausforderung auch noch Partnerschaft, Familie und weitere Interessensgebiete warten. Wenn wir nun das landesübliche Vollzeitäquivalent von 42 Stunden mit dem aktuell dokumentierten ärztlichen Vollzeitäquivalent von 55 Stunden in Beziehung setzen, resultiert der Faktor 1,31. Oder anders ausgedrückt: Wir benötigen zukünftig vier neue Ärztinnen und Ärzte, um drei in den Ruhestand gehende Kolleginnen und Kollegen zu ersetzen – nur um bei der gleichen Workforce zu bleiben. Wenn wir dann noch die Ärztedichte in der Schweiz betrachten, liegt diese bei 4,5 Ärztinnen und Ärzten pro 1000 Einwohner. Wird die Zahl 4,5 durch den oben berechneten Faktor dividiert, ergibt dies knapp 3,4 Ärztinnen und Ärzte pro 1000 Einwohner, was sogar unter dem OECD-Durchschnitt zu liegen kommt.

Sinkender Tendenz entgegenwirken

Und wo geht die Reise gemäss der neuesten MAS-Zahlen nun wirklich hin? Die Zahl der Leistungserbringer schrumpft. Vor dem Hintergrund der eben geschilderten Workforce-Perspektive ist dies doch eine herausfordernde Feststellung. Wenn wir jetzt (erst) eine Ausbildungsoffensive starten, ist dies zwar bestimmt nicht falsch, sie löst unser Problem aber erst in 12 bis 14 Jahren. Wir müssen also die noch verbleibende Arbeitskraft möglichst effizient einsetzen und nicht in administrativen Arbeiten untergehen lassen. Damit würden wir auch viel zur Arbeitsattraktivität beitragen und dem verfrühten Verlust von Arbeitskraft durch Berufsaussteigende entgegenwirken. Dementsprechendes Studienmaterial liegt leider schon allzu lange unbeachtet vor, trotz grösstem Potenzial.

Politik steuert in falsche Richtung

Wenn ich die kürzlich erfolgten und noch angedachten Regulierungen betrachte, so muss ich leider feststellen, dass auf der politischen Ebene gerade in die andere Richtung gearbeitet wird: Ein bürokratisches Ungetüm jagt das nächste! Nachdem die Zulassungssteuerung in den Kantonen zu grossen Herausforderungen führt, muss der Gesetzgeber bereits nachbessern. In der Umsetzung des neuen Qualitätsartikels sollen die neu geforderten Nachweisarbeiten zum Null-Tarif geleistet werden, sprich einfach noch zusätzlich – also letztendlich zulasten der Zeit am respektive für den Patienten. Nun wird dem Parlament mit dem sogenannten Kostendämpfungspaket II in Realität ein Kostenexplosions-Paket vorgesetzt, wiederum verbunden mit einem enormen Bürokratie-Zuwachs. Eine veritable Paket-Bombe! Der Zentralvorstand der FMH hat diese Herausforderungen zeitnah erkannt und nimmt sich dieser an. Dies selbstverständlich auch hier nicht mit reiner Ablehnung, sondern mit diversen konstruktiven Ansätzen.

Gender-Pay-Gap: Position der FMH

Ein weiterer Aspekt der Berufsattraktivität betrifft die geschlechterspezifischen Einkommensunterschiede. Dr. Stefanie Hostettler, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Daten, Demographie und Qualität der FMH, hat sich der Thematik des Gender-Pay-Gap angenommen, indem sie die verfügbare wissenschaftliche Literatur aufgearbeitet und zusätzlich Vergleiche mit dem Ausland und übrigen Berufsgruppen vorgenommen hat. Ich danke Stefanie Hostettler an dieser Stelle herzlich für diese wichtige Arbeit, mit der sich auch der Zentralvorstand der FMH auseinandergesetzt hat. Er hat darauf basierend seine Position und seine Empfehlungen formuliert, die Sie ab Seite 36 dieser Ausgabe finden. Die Herausforderung des Gender-Pay-Gap ist nicht ein ärztespezifisches Thema, wie die jüngsten Publikationen von anderen Organisationen zeigen. Doch gerade jetzt, wo die ärztliche Tätigkeit klar zum Frauenberuf wird, ist es für die FMH zentral, hierzu eine Position einzunehmen und auch Empfehlungen auszusprechen. Das Problem Gender-Pay-Gap ist erkannt. Die Gründe dafür sind jedoch nicht abschliessend bekannt. Diese zu kennen, ist für die Erarbeitung von griffigen Gegenmassnahmen – zum Beispiel Arbeits- und Vergütungsmodelle, Lohngleichheit und Kulturwandel – wichtig. Die Analysen müssen auf einer soliden und verlässlichen Datengrundlage und Methodik aufbauen. Ziel muss es sein, den Gender-Pay-Gap zu schliessen.

Teilnahme an MAS-Erhebung 2021

Sie sehen, sehr geehrte Leserinnen und Leser: Es hängt vieles miteinander zusammen. In dieser Komplexität ist die FMH unterwegs, gute Lösungen gemeinsam mit ihren Partnerinnen und Partnern zu finden, denn auch hier gilt es, in der breiten Abstützung und unter Mitwirkung aller Betroffenen und Beteiligten voranzugehen. Schritt für Schritt. Gemeinsam mit Ihnen erreichen wir dieses Ziel. Und damit zum Schluss noch eine Bitte, die gerade auch Ihre Chance ist, uns zu unterstützen: Schon bald beginnt die MAS-Erhebung für das Jahr 2021. Ähnlich wie die Steuererklärung ist sie langsam Routine geworden. Mit Ihrem Mitmachen zeigen Sie, dass Sie mithelfen, Transparenz zu schaffen und zu einer soliden Datengrundlage beizutragen. Ich danke Ihnen dafür!
Christoph Bosshard
Dr. med., Vizepräsident sowie Departementsverantwortlicher Daten, Demographie und Qualität, FMH
large group of medical specialists is rushing to the rescue
Man muss dem verfrühten Verlust von Arbeitskraft durch Berufsaussteigende entgegenwirken, bevor es zu spät ist.
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