Workaholic auf Abwegen

Praxistipp
Ausgabe
2022/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21208
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(46):64-65

Publiziert am 16.11.2022

WellbeingDas berufliche Wohlbefinden des ärztlichen Personals ist ein dringendes Anliegen. Denn der Ärzteschaft geht es schlecht – und das nicht erst seit gestern. Die Verantwortung liegt bei der gesamten Gesellschaft. Schliesslich geht es um die Gesundheitsversorgung für Patientinnen und Patienten.
Du, über Wellbeing reden?!», so die Reaktion meiner Schwester, als ich ihr sagte, dass ich über dieses Thema schreiben würde. «Ein Workaholic wie du?» Ich war gerade wandern in Graubünden, als mich das Angebot, einen Beitrag für diese Rubrik zu verfassen, erreichte. Mein Partner, ebenfalls arbeitssüchtig, beantwortete gerade einen Kundenanruf. Da der Aufstieg sehr steil war, hielten wir an. Reflexhaft griff auch ich zum Natel, um rasch die E-Mails zu checken. Das Angebot kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt, hatte ich mir doch geschworen, das Neinsagen zu lernen. Sei’s drum. Hier bin ich nun, bereit, mich trotz meines introvertierten Charakters zu exponieren, um ein schwammiges Thema bei einer Leserschaft anzusprechen, die in wissenschaftlicher Strenge geschult und vermutlich skeptisch ist. Bereit, meine Zeit vor dem Computer noch zu verlängern, während es meine Beine, an diesem sonnigen Nachmittag, zu den Herbstfarben zieht.

Schon im Praktikum entmutigt

Wozu eigentlich? Weil das ärztliche Wohlbefinden ein dringendes und ernstes Anliegen ist, das uns alle betrifft – sei es auf individueller, institutioneller, gesellschaftlicher oder politischer Ebene. Ich sage nicht, dass man uns Wellness-Kuren zahlen, die Arbeitszeiten der Assistenzärztinnen und -ärzte weiter kürzen oder unsere Leistung mehr würdigen sollte. Mitnichten. Mangelndes Wohlbefinden hat auch nichts mit «Schwachheit», «Faulheit» oder der «neuen Generation» zu tun und ist keine «Modeerscheinung». Nein! Aber wenn wir weiterhin ärztlich gut versorgt werden möchten, müssen wir jetzt handeln und aufhören, Ärzte als unverwundbar und grenzenlos belastbar anzusehen. Dem ärztlichen Personal geht es schlecht, und das ist kein Post-COVID-Phänomen. Neulich erzählte mir eine Assistenzärztin, dass befreundete Kollegen sich nicht mehr trauten, in geselliger Runde ihren Beruf zu nennen! Sie sagte mir auch, dass drei ihrer sechs Praktikanten sich nicht vorstellen konnten, nach ihrem Studium als Arzt zu praktizieren. Es gibt Tage, an denen ich das gut verstehe ...
Beim letzten Pikettdienst komme ich morgens zur Dienstübergabe und ein Drogenabhängiger beschimpft mich, weil ich ihn nicht zum Rauchen begleite. Das Spital läuft über, doch die Oberschwester und ich müssen vier Stunden warten, bis eine Verlegung akzeptiert wird, da unser Urteil bezüglich der angemessenen Abteilung für die Patientin ohne objektiven Grund stets angezweifelt wird. Zwischenzeitlich versucht ein anderer Patient, zwei Pflegerinnen zu beissen, die ihn in ein anderes Zimmer bringen sollen, um einen Agranulozytose-Patienten zu isolieren. Abends schlage ich den Krankenschwestern vor, einen Bericht über das gewalttätige Verhalten zu schreiben. Antwort: «Aber das ist doch jeden Tag so. Was soll sich denn ändern − ausser, dass wir heute noch später rauskommen?» Die Kollegen sind bei der Dokumentation. «Kannst du mal prüfen, ob die Angaben ausreichend sind? Die Tochter des Patienten hat mir gedroht.»

Wir alle müssen unseren Teil beitragen

Ich gebe es zu – so habe ich mir meinen Alltag als Ärztin nicht vorgestellt! Allerdings gibt es auch Patienten und Angehörige, die sich bei einem bedanken, Kollegen, die sich gerne mit einem für das Wohl der Patienten einsetzen, und wohlmeinende, kluge Vorgesetzte, die einen motivieren!
Wie aber kann man diese Aspekte fördern? Eine Lösung, gar eine allgemeingültige, habe auch ich nicht parat. Aber ich freue mich darauf, in den nächsten Ausgaben mit Ihnen näher in das Thema einzusteigen. Wir alle müssen unseren Teil beitragen. Zuallererst müssen wir selbst handeln, im eigenen und im Interesse unseres unmittelbaren Umfelds. Zweitens müssen Abteilungs- und Spitalleitungen Verantwortung übernehmen und diese Überlegungen bereichsübergreifend in ihre Konzepte einbeziehen. Schliesslich müssen Gesellschaft und Politik rasch erkennen, dass die Frage «Doktor sein oder nicht sein» von ihrem persönlichen Wohlergehen abhängt. Tragen wir also dafür Sorge!
Dr. med. Vanessa Kraege
Die assoziierte Ärztin für Innere Medizin ist stellvertretende ärztliche Leiterin des CHUV. Dort ist sie zuständig für Weiterbildung und Nachwuchsförderung.
© Luca Bartulović