Recht auf menschlichen Kontakt

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21213
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(47):74

Publiziert am 22.11.2022

Der Kanton Wallis plant, das «Recht auf menschlichen Kontakt» als Grundrecht in seine neue Verfassung aufzunehmen. Wie kommt es zu diesem innovativen Vorschlag? Laut werstimmtwie.ch ist das Ziel, «sicherzustellen, dass jede Person in wesentlichen Situationen menschliches Eingreifen verlangen kann. Damit soll zum Beispiel verhindert werden, dass die Pflege vollständig von Robotern übernommen wird oder dass eine Entscheidung vollautomatisch ohne menschliches Zutun getroffen wird» [1].
Anne-Françoise Allaz
Prof. Dr. med., Mitglied des Advisory Boards der Schweizerischen Ärztezeitung
Dass es neuer Gesetze bedarf, um den «Nutzerinnen und Nutzern» von Pflege und Medizin den Zugang zu menschlichem Kontakt zu garantieren, scheint mir schwindelerregend. Haben die Mitglieder des Verfassungsrats im Wallis ein bisschen zu viel Science Fiction genossen? Wohl kaum. Ohne grosses Aufheben führt die Roboterindustrie ihre humanoiden Figuren in die Pflege von vor allem älteren Menschen ein, nicht nur in Japan. Roboter sind heute in der Lage, viele unterstützende pflegerische Aufgaben selbstständig zu übernehmen; «soziale Roboter» können kognitive Aktivitäten und Interaktionen fördern. Die Maschinen sind kommunikativ geworden und können Emotionen immer besser erkennen. Ihre Präsenz nimmt zu, sowohl im Privat- als auch im Pflegebereich [2]. Auf die Frage, warum solche Roboter als Ergänzung zur menschlichen Hilfeleistung eingesetzt werden, heisst es meist: weil es schlicht unmöglich ist, alle erforderlichen Pflegeleistungen für eine alternde Bevölkerung zu erbringen. Hinzu kommen die Kosten und der generelle Mangel an Pflegepersonal. Die Fortschritte in diesem Bereich erfolgen schnell und auf breiter Front. Sie werden durch Innovationsprogramme wie Horizon 2020 gefördert oder von ambitionierten Unternehmen vorangetrieben, die das riesige Marktpotenzial erschliessen möchten.
Angst vor Entmenschlichung? Ach was! «Die Perfektion der Roboter, gerade beim Design, wird dafür sorgen, dass die Technologie immer menschenähnlicher wird», heisst es in einem Artikel des «Senior Magazine». Was gibt es dem noch hinzuzufügen? Tatsächlich zeigt eine aktuelle wissenschaftliche Bestandsaufnahme, dass «soziale» Roboter in den letzten zehn Jahren an Akzeptanz gewonnen haben [3].
Im Walliser Gesetzesentwurf wird anerkannt, wie wertvoll und unersetzlich menschliche Präsenz ist, gerade auch bei medizinischen und pflegerischen Tätigkeiten. Für alle Angehörigen der Gesundheitsberufe ist dies eine Selbstverständlichkeit, da es sich dabei um eine der zentralen Säulen unserer Berufe handelt. In der Medizin bedeutet Präsenz, Beschwerden und Leiden wahrzunehmen und auf eine persönliche Art und Weise darauf einzugehen. Dies kann mit Worten sein oder durch das gemeinsame Erleben der Stille; es kann auch ein Geheimnis sein, das man hört und bewahrt. Präsenz kann die dauerhafte Begleitung einer Patientin oder eines Patienten und die Unterstützung der Angehörigen sein. Mitunter ist es schlicht und ergreifend eine Berührung und die Tatsache, dass man da und verfügbar ist. Es geht darum, dass man sich auf uns verlassen kann, dass wir professionell und kompetent handeln. Und es geht auch um die individuelle Art und Weise, wie wir alle in diesem Beruf Präsenz zeigen.
Die Fähigkeiten der Roboter, die zur Unterstützung der Pflege angeboten werden, sind beeindruckend und nützlich. Aber haben wir wirklich schon erfasst, welche Zukunft sie verheissen? Die zunehmende Präsenz von Robotern in unserem Leben, von der der Gesetzesentwurf zeugt, zwingt uns dazu, uns zu unseren menschlichen und humanistischen Werten zu bekennen. Wir müssen unsere Identität, unsere Ethik, unsere Prioritäten und unsere Grenzen überdenken. Dies betont unter anderem Johan Rochel [2], Co-Direktor des Labors für Innovationsethik Ethix. Die Ärzteschaft sollte sich diese Gelegenheit, über die Fundamente unseres Tuns nachzudenken, nicht entgehen lassen.
1 www.werstimmtwie.ch, Abstimmungsresultate im Verfassungsrat des Kanton Wallis.
2 Johan Rochel, Les robots parmi nous, Savoir suisse, 2022.
3 David D, Therouanne P, Milhabet I, The acceptability of social robots: A scoping review of the recent literature. Computers in Human Behavior 137 (2022) 107419 doi.org/10.1016/j.chb.2022.107419