Forensik im Dienste der Lebenden

Porträt
Ausgabe
2022/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21214
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(48):80-81

Publiziert am 30.11.2022

Am Totenbett Sie hat die Post-Mortem-Angiographie erfunden und leitet heute das Centre romand de médecine légale. Eine Begegnung mit der Gerichtsmedizinerin Silke Grabherr, einer vielseitig begabten, international renommierten Expertin.
Ungewöhnlich. So beschreibt sie gerne ihren Werdegang und die Stellung, die sie heute in der medizinischen Landschaft der Schweiz einnimmt. Silke Grabherr ist Forensikerin und Direktorin des Centre universitaire romand de médecine légale (CURML) in Lausanne. Trotz ihres übervollen Terminkalenders nimmt sie sich Zeit für ein Gespräch. «Gleich am Morgen die erste Terminverspätung, da ist der Dominoeffekt garantiert!», sagt sie mit einem Lächeln und bietet mir einen Stuhl an. Aus ihren Augen blitzt der Schalk. Dabei ist sie hochkonzentriert. Sie antwortet bedächtig, nach kurzem Überlegen.
Für Silke Grabherr ist die Gerichtsmedizin ein Bereich, in dem man stark mit dem Leben in Berührung kommt.
© HUG
«Wenn ich mir zugestehen darf, auf etwas stolz zu sein, dann ist es die Tatsache, dass ich mit 33 Jahren Privatdozentin für Gerichtsmedizin geworden bin», stellt Silke Grabherr fest. «So wurde ich als jüngste ordentliche Professorin der Schweiz an die Universitäten Genf und Lausanne berufen.» Der Titel wurde ihr 2013 an der Universität Lausanne (UNIL) verliehen. Er bestätigt ihre Fähigkeit, die kleine Forschungsgruppe zu leiten, die sie 4 Jahre zuvor rund um ihren Schwerpunktbereich, die Post-Mortem-Angiographie, aufgebaut hat. Sie wurde zunächst Leiterin der eigens dafür geschaffenen Abteilung für forensische Bildgebung und 2016 Direktorin des CURML. 2019 wurde sie «aufgrund ihrer wissenschaftlichen Exzellenz» Mitglied der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Ihren brillanten Karrierestart verdankt die heute 42-Jährige ihrer ausgeprägten Zielstrebigkeit.

Viel Durchsetzungsvermögen

Silke Grabherr ist Österreicherin. Sie hätte Kellnerin, Krankenschwester oder Polizistin werden können. Was diese Berufe gemeinsam haben und was sie hauptsächlich antreibt? Der Dienst an und der Kontakt mit den Menschen. Die einzige Tochter einer jungen, noch in Ausbildung befindlichen Mutter wuchs bei einer Pflegegrossmutter auf, die ein Dutzend Kinder häuslich betreute. Bereits früh lernte sie, allein zurechtzukommen und sich hohe Ziele zu stecken. «Lange hatte ich kein Mitspracherecht und befolgte mütterliche Anordnungen», sagt sie. Nach dem Erwerb mehrerer Diplome im Hotelfach wollte sie studieren und eine Laufbahn als Ärztin einschlagen. «Ich wurde zwar in dieser Wahl unterstützt, musste aber die Mittel dafür selbst aufbringen. Mit verschiedenen Jobs − unter anderem als Kellnerin und Ladenbetreiberin − finanzierte ich mein Studium an der Medizinischen Universität Innsbruck.»
Dort bot man ihr an, ihr Studium mit einem Praktikum in Innerer Medizin abzuschliessen und stellte ihr eine Festanstellung in Aussicht. Doch ein Kurs in Rechtsmedizin wurde ihr zum prägenden Erlebnis. Sie erinnert sich: «Im Verlauf einer Autopsie wurde mir plötzlich klar, dass man in diesem Fachgebiet den Menschen als Ganzes und nicht nur ausschnittsweise behandeln konnte. Das gab für mich den Ausschlag.» Ihr leitender Arzt hielt das zunächst für eine Marotte. Schliesslich wirkt dieser verkannte Fachbereich wenig attraktiv. Dennoch empfahl ihr Vorgesetzter sie dem Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Bern, Professor Dirnhofer, der in Fachkreisen als Vater der virtuellen Autopsie gilt. Zu ihm stiess Silke Grabherr im Jahr 2003. Ihre beruflichen Weichen waren gestellt.

Bahnbrechende Erfindung

Für ihre Doktorarbeit stand sie vor der Herausforderung, das Gefässsystem eines Verstorbenen, dessen Herz ja nicht mehr schlägt, am Bildschirm zu rekonstruieren. Innerhalb von drei Monaten gelang ihr das. Die Lösung war genial: Sie injizierte ein kontrastmittelhaltiges Öl in die Leistengegend der Leiche und rekonstruierte den Kreislauf künstlich mit einer Pumpe. Ein Ganzkörper-Scan der Leiche lieferte nun besonders wertvolle Bilder der Venen und Arterien, mit denen sich bei einer Autopsie der genaue Ursprung einer Blutung ermitteln liess. Das Prinzip der Post-Mortem-Angiographie war geboren.
Silke Grabherr optimierte die Methode zunächst als Assistenzärztin am Institut in Bern, ab 2007 dann am Institut für Rechtsmedizin in Lausanne. Mittlerweile ist die Technik weltweit zum Standard avanciert und hat ihr viele Türen geöffnet. Neben ihrer Forschungsarbeit absolvierte sie eine Ausbildung zur Gerichtsmedizinerin und erwarb den Facharzttitel.

Ärztin, Managerin und Ausbilderin

Die Direktorin des CURML hat mehr als 260 Mitarbeitende in den vier Einrichtungen (UNIL, UNIGE, CHUV, HUG) und zwölf Abteilungen des Universitätszentrums. Rund fünfzig Fachbereiche sind hier vertreten. Darunter – neben der Forensik – die Klinik, Psychiatrie, Toxikologie, Chemie, Genetik und Anthropologie. Durch entsprechende Koordination all dieser Spezialistinnen und Spezialisten lassen sich rechtsmedizinische Fragen klären. Im facettenreichen Berufsalltag von Silke Grabherr nehmen Management und Ausbildung die meiste Zeit in Anspruch. Unter anderem koordiniert sie sämtliche Ausbildungsmassnahmen im Bereich Rechtsmedizin in der Westschweiz. «Derzeit beobachten wir eine starke Zunahme der Beschwerden von Patienten über ihre Ärzte», stellt die Forensikerin fest. Sie bemüht sich daher verstärkt, ihren Kolleginnen und Kollegen entsprechende Mittel an die Hand zu geben, um Fallstricke zu vermeiden. Dazu gibt es am Universitätsspital Genf (HUG) seit Kurzem eine neue Ausbildung: «Le médecin accusé» (Der angeschuldigte Arzt).
Oftmals einfach auf die Thanatologie reduziert, «ist die Gerichtsmedizin vielmehr ein Bereich, in dem man mehr denn je mit dem Leben in Berührung kommt», meint die Professorin. So sei die Hälfte der dort untersuchten Personen noch am Leben. Zudem mobilisiere der Beruf des Forensikers Kompetenzen wie Teamfähigkeit und die Erschliessung neuer Forschungsbereiche. Mitten in der Nacht aufstehen zu müssen, sich zu einem Tatort zu begeben und nicht zu wissen, was einen erwartet – so etwas ist Ansporn und Anreiz zum Handeln, und das ist ganz nach Silke Grabherrs Geschmack. «Ich schätze auch die Zeit, die ich mit den Verstorbenen verbringe», betont sie. «Man erweist ihnen Respekt, während man sie Organ für Organ geduldig untersucht. Schliesslich sind wir ihr letzter Arzt.»