Keine Karriere ohne Arbeit

Praxistipp
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21228
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):80-81

Publiziert am 07.12.2022

KarriereDie Work-Life-Balance der Autorin ist seit einigen Jahren arg aus dem Gleichgewicht geraten. Ein grosser und wichtiger Teil ihres Lebens fehlt nämlich: die Arbeit. Weshalb die Pensionärin ihren Beruf als spannend erlebt hat – und wieso es manchen Ärztinnen und Ärzten heute anders geht.
Bei der Berufswahl entscheidet man sich für etwas, das einen interessiert, bei dem man sich persönlich einbringen kann und womit man es vielleicht zur Meisterschaft bringen kann. Die jährlich stattfinden Wettbewerbe der Lehrlinge aller Berufsgattungen begeistern mich, einerseits aufgrund des gezeigten Könnens, aber auch wegen der spürbaren Hingabe der jungen Menschen an den gewählten Beruf. Man spürt eine Identifikation mit der gewählten Tätigkeit – und das Strahlen der Gewinner deutet nicht darauf hin, dass ihnen «Life» abhandengekommen wäre.
Wenn ich in der NZZ lese, dass junge Menschen heutzutage bereits bei Arbeitsbeginn die Kündigung im Hinterkopf haben, dass sie kurzfristig von einem Tag zum andern nicht zur Arbeit erscheinen, so frage ich mich, was sie denn Selbstverwirklichendes planen? Und was, wenn der SBB-Kondukteur eben an dem Tag, an dem die Jungen zum Sport in die Berge fahren wollten, auch seinen Entspannungstag braucht, der DJ vom Vortag so erschöpft ist, dass er nicht zur Party erscheint oder die Notfallstation Ihren beim Sport gebrochenen Knöchel nicht behandeln kann, weil gerade alle Mitarbeitenden einen Ruhetag benötigen? Funktioniert die «volatile» Work-Life-Balance der einen nur, wenn ein Grossteil der Arbeitenden bünzlig, pünktlich und zuverlässig weiter arbeitet?

Zufrieden bei der Arbeit

Klar ist, dass eine Arbeitszeit, wie wir sie kannten, nicht mehr zeitgemäss ist, und dieses System wurde mit dem «Bleistiftstreik» 1998 erfolgreich beendet, als im Kanton Zürich Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte für eine Regulierung der Arbeitszeit kämpften. Dennoch war es für junge Ärztinnen lange Zeit nicht möglich, ohne Unterstützung der Grosseltern Kinderwunsch und Karriere unter einen Hut zu bringen. Die Ermöglichung der Teilzeitarbeit, insbesondere auf Kaderebene, hat hier innert weniger Jahre zu einem Umdenken geführt. Zu meiner aktiven Zeit als Chefärztin hatten fast alle Ober- und leitenden Ärztinnen bis zu sechs Kinder, ihre Abwesenheiten regelten sie untereinander und ihre sechsmonatige Abwesenheit konnte meist durch geringgradige Änderung der Arbeitszeit der verbleibenden Kolleginnen und Kollegen abgedeckt werden. Es bestand eine grosse Solidarität und alle kamen nach der Arbeitspause gerne wieder zu ihrer interessanten Arbeit zurück, auch weil die Arbeit geregelter und planbarer war als die Zeit zu Hause.
Warum also beenden trotzdem so viele junge Ärztinnen und Ärzte und auch Pflegende ihren Beruf, der ihr Wunschberuf war? Neben der Überbelastung und Frustration speziell während der Coronajahre gibt es vielleicht noch andere Gründe.
© Luca Bartulović

Der Beruf muss attraktiver werden

Kann es sein, dass die Berufsrealität nicht mehr der Vorstellung entspricht, die man sich vom gewählten Beruf machte? Yvonne Gilli spricht in der Ärztezeitung, Ausgabe 41, von einer Administrativspirale, die in der Praxis zu einer Mikroregulierung und Mikroadministration führt. Heute beträgt die administrative Belastung der Assistentinnen und Assistenten rund 50% der Arbeitszeit, die der Pflegenden fast 40%. Nicht nur geht dadurch ein enormer Teil der effektiven ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit verloren, sie führt auch zu Desillusionierung und Frustration im Beruf. Wenn eine junge Frau sich für den Pflegeberuf entscheidet, will sie kranke Menschen pflegen, ihnen Zuwendung geben und, als wichtigen Teil des Lohnes, oft Dankbarkeit und Anerkennung erhalten. Wenn ein junger Mensch das lange und zum Teil belastende Studium der Medizin ergreift, will er Patientinnen und Patienten behandeln, Krankheiten erforschen und ja, auch Anerkennung und Dankbarkeit spüren. Diese jungen Menschen verlassen den Beruf nicht, weil sie sich in der Berufswahl getäuscht haben, sondern weil sich die Realität des Berufes zum Teil grotesk vom Wesentlichen entfernt hat. Dringende Aufgabe wäre also, die Berufe im Gesundheitswesen wieder so attraktiv zu machen, dass der Beruf wieder als Teil des Lebens und nicht lebensverhindernd empfunden wird. Damit man bei einer Zwillingsgeburt, zu der man morgens um drei gerufen wird, wieder denkt: «That’s life!»
Brida von Castelberg
Sie war von 1993 bis 2012 Chefärztin der Frauenklinik des Stadtspitals Zürich. An dieser Stelle schreibt sie regelmässig über Karrierefragen.