So tickt die Schweizer Medizinjugend

Hintergrund
Ausgabe
2022/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21231
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(47):16-20

Publiziert am 22.11.2022

MedizinstudierendeDie nächste Generation der Ärztinnen und Ärzte tritt selbstbewusst auf und hinterfragt gerne den Status Quo. Sie ist nicht mehr bereit, die eigene Gesundheit für die Karriere zu opfern. Das sorgt für mehr Konflikte, kann aber helfen, die Medizin in der Schweiz zu verbessern.
Die Zeit der Predigten ist vorbei in den Vorlesungssälen von Schweizer Spitälern: Wo früher ein Professor aus dem Sobotta las und Studierende ehrfürchtig zuhörten, wird heute am Schluss einer Vorlesung oftmals lebendig diskutiert. Denn der Nachwuchs ist aufmüpfig geworden [1], die gesellschaftliche Polarisierung der vergangenen Jahre hat vor den Auditorien der medizinischen Fakultäten keinen halt gemacht.
Medizinstudierende wollen ihren Weg in die Arbeitswelt anders gestalten als ihre Vorgänger.
© Jacqueline Munguía / Unsplash
Am deutlichsten wird das bei Vorlesungen zu medizinischen Themen, die in der Laienpresse ebenfalls heftige Emotionen auslösen. Etwa, wenn es um die gesündeste Form der Ernährung geht. Wird in einer Vorlesung Veganismus oder die Sinnhaftigkeit von Proteinpulver zum Muskelaufbau angesprochen, kommen garantiert Rückfragen und manchmal gar Widerspruch aus dem Publikum. Denn die Professorinnen und Professoren werden nicht mehr als unfehlbare Autoritäten angesehen. Die heutigen Studierenden sind im Zeitalter von Fake News aufgewachsen und haben in der Schulzeit gelernt, alles Mögliche zu hinterfragen. Im Sinne der wissenschaftlichen Wahrheitssuche tun sie das auch in den Vorlesungen, was manches Referat mehr zu einem Pingpongspiel zwischen Dozent und Publikum werden lässt.
Das Selbstvertrauen dieser neuen Generation ist weiter in ihrer politischen Standesvertretung erkennbar: Schon der Verband der Schweizer Medizinstudierenden swimsa (swiss medical students association) führt eigene Kommissionen und Expertengruppen für verschiedenste politische Themen wie sexuelle Gesundheit, psychische Gesundheit oder das Bewältigen der Coronapandemie [2]. Durch die Positionspapiere des Verbandes [3] wird klar: Diese jungen Menschen wollen bei den wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen mitreden.

Die Balance muss stimmen

«Wir setzen uns dafür ein, dass sowohl die medizinische Ausbildung als auch Public Health verbessert werden. Und sorgen dafür, dass Studierende ab dem dritten Jahr einen Austausch in anderen Ländern machen können», fasst Annina Biri, Vorstandsmitglied und Studentin an der Universität Zürich, das Engagement des Verbands zusammen. Die politische Ausrichtung und die Schwerpunkte werden jeweils zweimal jährlich an den Generalversammlungen durch die Mitglieder bestimmt. Der Verband ist dabei sehr flexibel, weil die meisten Vorstandsmitglieder nur für ein Jahr gewählt sind. Die grösseren roten Linien versucht man mit Positionspapieren zu setzen, etwa zum Thema «Chancengleichheit im Gesundheitswesen» [4].
Es geht aber auch um konkretere Anliegen. «In den letzten Jahren haben wir uns für mehr Freiheit bei der Auswahl der Masterstudienplätze oder mehr Ressourcen für Medizinstudierende eingesetzt», sagt Annina Biri. Während der Pandemie hat die swimsa sich zudem für fairere Arbeitsbedingungen in den Praktika eingesetzt. Gerade dies ist ein Thema, dass alle Mitglieder sehr stark beschäftigt. Denn die Work-Life-Balance wird von vielen fertig ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten berufsbedingt vernachlässigt [5].
Morgan Hetemi sammelt bei einem Auslandssemester neue Erfahrungen.
«Ich bin nicht bereit, mein Leben komplett dem Arztberuf unterzuordnen», sagt etwa Salome Amstutz, Medizinstudentin im vierten Jahr an der Universität Basel. Die Baslerin bringt zum Ausdruck, wie sich viele ihrer Kommilitoninnen fühlen: «Mir war von Anfang an klar, dass ich in meiner Ausbildung zur Ärztin viel leisten werden muss. Doch ich will das nicht für alle Ewigkeit tun müssen, sonst gefährde ich auf Dauer die Patienten. Und irgendwann will ich Zeit haben, um eine Familie zu gründen.»

Kinderwunsch – ein schwieriges Thema

Die Familienplanung ist für die Mehrheit der Studierenden ein bewegendes Thema. Das ist auch demografisch bedingt, weil die Mehrheit der neu zugelassenen Studierenden mit etwas mehr als 60 Prozent Frauen sind [6], die bei einer Schwangerschaft im Spital karrieretechnisch einen schwierigeren Stand haben als ihre männlichen Kollegen. «Ein Professor hat mir geraten, schon während des Studiums Kinder zu gebären, um die Karriere später einfacher voranzubringen», berichtet Amstutz. Sie hat sich wie die meisten Ärztinnen aber anders entschieden, weil sie mit einer abgeschlossenen Ausbildung in der Tasche unabhängiger ist.
Die meisten angehenden Ärztinnen haben sich mit der Karriereplanung schon einmal auseinandergesetzt. In Salome Amstutzes Freundeskreis ist das ein vieldiskutiertes Thema, auch wenn die junge Frau ihren eigenen Weg noch nicht komplett vorgeplant hat. Noch ist sie offen für verschiedenste Spezialisierungen, Amstutz kann sich sowohl ein Leben als Hausärztin, Gynäkologin oder Kinderärztin vorstellen. Wichtig ist ihr dabei aber, dass sie nach dem Studium im Spital zuerst genügend Erfahrung sammeln kann, um auf verschiedenste Patientinnen und Patienten vorbereitet zu sein.
Wie Amstutz geht es den meisten Schweizer Medizinstudierenden. Eine aktuelle Schweizer Studie mit 354 studentischen Teilnehmern [7] mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren fand heraus, dass mehr als die Hälfte der befragten Medizinstudierenden am Anfang ihrer Laufbahn noch keine spezielle Karrierepräferenzen hat. Bezüglich der Beliebtheit von Spezialisierungen zeigte sich allerdings ein anderes Bild: Über 70% der Studierenden sind interessiert an einer Spezialisierung für ein Fach, aber nur 30% können sich ein Leben als Hausarzt oder -ärztin vorstellen. Diese Zahl erstaunt, insofern als in den vergangenen Jahren viel getan wurde, um die positiven Seiten des Hausarztberufs herauszustreichen. So werden an den Universitäten jetzt früher hausarztmedizinische Vorlesungen abgehalten. Und ein Teil der Studierenden der Universität Zürich, der via «Luzerner Track» an der Universität Luzern unterrichten wird, soll laut Website [8] ausdrücklich zu «kompetenten Generalistinnen und Generalisten für die ambulante und stationäre Patientenbetreuung ausgebildet werden». Die Teilnehmenden müssen sich schon vor dem Studium für diese speziellen Ausbildungsplätze entscheiden.
Salome Amstutz will ihr Leben nicht komplett dem Arztberuf unterordnen.
Am wenigsten Interesse zeigten die Studierenden in der obigen Studie jedoch für eine akademische Karriere oder eine Laufbahn in der Industrie. Einzig die Studentinnen und Studenten der ETH Zürich haben diesbezüglich eine andere Haltung und sind wissenschaftlichen und privatwirtschaftlichen Plänen gegenüber positiver gestimmt.

Landesgrenzen sind keine Grenzen mehr

Ein weiterer markanter Unterschied zu früheren Generationen ist, dass die jetzigen Studierenden deutlich internationaler ausgerichtet sind als viele ihrer Vorgängerinnen. Die eigene Zeitung der swimsa [9], das «swiss medical students national journal», erscheint auf Englisch. Und an den Medizinstudierenden-Kongressen ist die gesprochene Sprache zwischen Romands und Deutschweizerinnen meist ebenfalls Englisch. So sollen die unterschiedlichen Sprachkenntnisse ausgeglichen und eine Inklusion aller Teilnehmenden ermöglicht werden, auch der ausländischen.
Englischkenntnisse sind für diese Generation eine Notwendigkeit. Dies auch weil die Studierenden schon während des Studiums Erfahrungen im Ausland sammeln wollen. Die von der swimsa angebotenen einmonatigen Forschungs- und Spitalaufenthalte in den Semesterferien [10] sind für viele Länder schnell ausgebucht. Den Vorzug erhalten bei einer Überbuchung jene, die für ihre Wunschreise durch studentische Ehrenämter am meisten Kreditpunkte gesammelt haben. Daneben gibt es für Schweizer Studierende die Möglichkeit, mit dem europäischen Erasmus-Programm ohne Zeitverlust in einer anderen europäischen Stadt zu studieren. Das ist beliebt: So nutzt beispielsweise an der Universität Basel fast jede sechste studierende Person dies Möglichkeit.
Einer, der sich für diesen Weg entschieden hat, ist Morgan Hetemi, der gerade ein Jahr an der Ludwig-Maximilian-Universität in München verbringt. Den Siebtsemestler reizte die Möglichkeit für ein Abenteuer in einer deutschen Grossstadt, wo viermal mehr Leute studieren als an seiner Heimuniversität. Die Erfahrung hilft ihm, Netzwerke für die Zeit nach dem Studium und ein besseres interkulturelles Verständnis der Medizin zu erlangen. «In München ist der Kleingruppenunterricht mit den Studenten aktiver als bei uns», erklärt Hetemi seine ersten Eindrücke. «Eine solche Atmosphäre motiviert mich dazu, häufiger auf die Fragen einer Professorin zu antworten».
Morgan Hetemi kann sich gut vorstellen, nach dem Staatsexamen einen Teil seines Lebens und seiner Facharztausbildung in einem anderen Land zu absolvieren. «Nach ein bis zwei Jahren möchte ich aber schon wieder in die Schweiz zurückkehren», erklärt er. Er und seine Kommilitonen sind bereit, für diesen Traum mehr zu leisten. So überlegt sich Hetemi, das amerikanische Staatsexamen ebenfalls zu absolvieren. Die Studierenden der Schweizer Universitäten haben heute nämlich die Möglichkeit, mit einem dreistufigen Verfahren einen zusätzlichen amerikanischen Studienabschluss zu erlangen. Das ist zwar kompliziert und mit einer Reise für Prüfungen in Genf, Mailand oder München [11] verbunden, vereinfacht aber die Bewerbung für einen Stage in den USA enorm.
Cato Bonné will mit ihrer Arbeit etwas Sinnvolles tun.

Angestellt sein wird immer attraktiver

Auch die Berner Drittsemesterstudentin Cato Bonné kann sich vorstellen, ihre Facharztausbildung in verschiedenen europäischen Städten zu absolvieren. Im Gegensatz zu ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen weiss Bonné bereits, wohin ihr Weg führen soll: «Ich studiere Medizin, um Gerichtsmedizinerin zu werden.» Denn das Rätsellösen und die philosophischen Aspekte des Berufs haben sie schon seit der 9. Klasse fasziniert. Für ihr Ziel ist Bonné bereit, die eher unbeliebten Nachtdienste zu leisten und auf Patientenkontakt zu verzichten.
«Mir ist wichtig, mit meiner Arbeit etwas Sinnvolles zu tun», erklärt die Stadtbernerin Cato Bonné. Für sie heisst das, dass sie als Gerichtsmedizinerin helfen will, den Menschen eine Erklärung für die Todesursache zu liefern und Verbrechen aufzuklären. Doch die philosophischen Seiten des Arztberufs faszinieren sie ebenfalls, etwa wenn es um Sterbehilfe oder um Fragen zu Leben und Tod geht. Dass sie bedingt durch die Berufswahl immer angestellt sein und keine eigene Praxis haben wird, stört Bonné nicht. « Ich mag es, wenn ich Rahmenbedingungen und Vorgaben für meine Arbeit habe», erklärt sie. Der Wunsch nach einer Einzelpraxis ist heute nur bei den allerwenigsten Studierenden vorhanden.
Diese Generation hat ihre ganz eigenen Vorstellungen vom Arztberuf. Als Teil der Gen Z ist sie geübter im Ausdrücken der eigenen Meinung und scheut wissenschaftliche Debatten mit den dozierenden Autoritäten nicht. Sie vertritt einen ganz eigenen Individualismus und will weg vom Ärztemythos des dauerarbeitenden Übermenschen, der sich selbst vernachlässigt und dadurch auf Dauer seine Patientinnen und Patienten gefährdet. Um dieses Ziel zu erreichen, scheinen die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte bereit, auch einen Teil ihrer Autonomie abzugeben.
1 de.wikipedia.org/wiki/Generation_Z
2 swimsa.ch/engagement/
3 swimsa.ch/ueber-uns/positionspapiere/
4 swimsa.ch/wp-content/uploads/2021/12/112021_-Positionspapier_zur_Chancengleichheit-im-Gesundheitssystem_D.pdf
7 bmcmededuc.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12909-022-03313-x
9 issuu.com/swimsa/docs/journal_fs22_a4_final_20220329_final_a4
10 swimsa.ch/exchanges/
11 www.med.uzh.ch/de/Medizinstudium/Mobilitaet2/amerikanischesstaatsexamen.html