Mit dem Finger am Puls der Zeit

Zu guter Letzt
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21235
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):82

Publiziert am 07.12.2022

Auch als Rentner im fortgeschrittenen Alter interessiere ich mich weiter für die Welt, in der wir leben – auf lokaler Ebene, auf Landesebene und darüber hinaus. Viele Dinge stellen uns vor Herausforderungen und sind zum Teil sehr beunruhigend, wie zum Beispiel der Krieg in der Ukraine. Um am Puls der Gesellschaft zu bleiben, ist Lesen eine gute Wahl. Ich möchte Ihnen hier ein Medley meiner Lektüre und der gesellschaftlichen Entwicklungen vorstellen, die mir aufgefallen sind und mich besonders beschäftigen.

Von der Fiktion einer entkoppelten Realität ...

Ich kaufe nicht allzu häufig mit Literaturpreisen ausgezeichnete Werke, aber der Prix Goncourt 2020 für «L’anomalie» von Hervé le Tellier hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Der sehr gut durchdachte Plot wühlte mich auf: der Absturz eines Passagierflugzeugs über dem Atlantik und sodann eine Geschichte, die einen in Atem hält, viele Fragen aufwirft und schliesslich zu einer ziemlich verblüffenden Pointe führt. Das Buch bietet eine Mischung aus wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, Anthropologie, Science-Fiction und Philosophieren über Politik und über den Zustand der Welt. Ein Roman, der eine Vorstellung davon vermittelt, was Künstliche Intelligenz und Geeks aller Art erdenken könnten – oder später vielleicht sogar realisieren? Unterhaltsam und aufwühlend.

… über die Kraft der Natur …

Mit grossem Interesse verfolge ich die Entdeckungen über die Kommunikationsfähigkeiten von Pflanzen, insbesondere von Bäumen. Neben zahlreichen Symbiosen und Kooperationen kommunizieren sie auch miteinander, etwa durch Botschaften, mit denen sie sich beispielsweise auf die Ankunft eines Schädlings vorbereiten können. Unser Landsmann, der Forstingenieur Ernst Zürcher, ist einer der Wissenschaftler, die derzeit im Rampenlicht stehen. Sein Buch «Die Bäume und das Unsichtbare» ist einfach unglaublich spannend.
Dann lese ich zum wiederholten Male einen internationalen Bestseller aus dem Jahr 1958, «Patricia und der Löwe», des französischen Abenteurers Joseph Kessel. Die Figuren in der Erzählung sind fiktiv, beruhen aber auf wahren Begegnungen des Schriftstellers in Ostafrika. Der Roman ist ein faszinierendes Porträt der zehnjährigen Patricia, Tochter eines britischen Tierparkleiters. Das Kind strahlt eine besondere Kraft aus, die es ihm ermöglicht, sich grossen Tiergruppen «kameradschaftlich» zu nähern. Dies gilt selbst für die furchterregendsten Tiere, darunter King, ein grosser Löwe, der als Waise von Patricias Familie aufgenommen und aufgezogen wurde, bevor er wieder in die Wildnis zurückkehrte.
Jean Martin
Dr. med. Jean Martin, ehemaliger Kantonsarzt Waadt

… bis zur Genderfluidität

Wer wie ich seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Leidenschaft die Entwicklungen im medizinisch-sozialen Bereich verfolgt, den beeindruckt die Geschwindigkeit, mit der die LGBT-Thematik an Sichtbarkeit gewinnt. Erstens denke ich oft mit Respekt und Empathie an die schwierigen Lebenswege dieser Menschen im Laufe einer Zeit, während der unsere europäischen Gesellschaften auf ein striktes binäres Modell fixiert waren, das offensichtlich der Komplexität der Realität nicht gerecht wird.
Ganz in meiner Nähe gibt es eine junge Person, um die 20, bislang ein Junge, die sich gerade als Transfrau geoutet hat. Und ich habe eines der wichtigsten französischsprachigen Bücher zu diesem Thema von Dr. Denise Médico, Dozentin in Genf und Montreal, gelesen («Repenser le genre»). Während meiner Tätigkeit in den Zeiten der AIDS-Epidemie stand ich homosexuellen Menschen und Gruppen nahe und freue mich über deren zunehmende Anerkennung in der Gesellschaft, doch das Thema Transgender war mir weit weniger bekannt. Neben wissenschaftlichen Teilen enthält dieses Buch auch substanzielle Beschreibungen von durchlebten Gender-Transitionen.
Alles anregende Einblicke in die Welt, in der wir leben. Auch wenn die eigenen Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind, lohnt es sich zu verstehen, wohin unsere Gesellschaft den Fuss setzt und wie sie sich entwickelt.