Reform im Gegenwind

Hintergrund
Ausgabe
2022/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21267
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(48):12-16

Publiziert am 30.11.2022

Gesundheitspolitik Der Bundesrat will mit dem Massnahmenpaket 2 zum Krankenversicherungsgesetz die Kosten im Gesundheitswesen dämpfen und die integrierte Versorgung fördern. Das wollen die Krankenversicherer auch – aber auf eine andere Art und Weise, wie Sie im dritten und letzten Teil unserer Serie zu diesem Thema lesen.
Was der Bundesrat dem Parlament derzeit mit dem zweiten Kostendämpfungspaket [1] vorlegt, soll gemäss seiner Aussage die medizinische Versorgung verbessern und das Kostenwachstum im Gesundheitswesen bremsen. In der Vernehmlassung 2020 [2] war das Paket in zentralen Punkten durchgefallen. Danach sind die umstrittenen Punkte einer Zielvorgabe, einer Erstanlaufstelle sowie Programme der Patientenversorgung aus der Vorlage entfernt worden. Die Zielvorgabe legt der Bundesrat nun als indirekten Gegenvorschlag zur hängigen Kostenbremse-Initiative vor.
Im September hat der Bundesrat das angepasste Massnahmenpaket 2 mit der entsprechenden Botschaft [3] dem Parlament überwiesen (vgl. Kasten). Die Schweizerische Ärztezeitung hat mehrere Versicherer und ihre Dachverbände um Stellungnahmen zum jetzt vorgelegten Paket gebeten. Dabei zeigt sich: Bei den Krankenversicherern kommt die Vorlage insbesondere in zwei Punkten immer noch schlecht an – im Hinblick auf die neuen Netzwerke zur koordinierten Versorgung und die Preismodelle für Arzneimittel.
Stürmische Zeiten – auch in der Gesundheitspolitik.
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Zusätzlicher Leistungserbringer

Was die koordinierte Versorgung anbelangt, will das Massnahmenpaket 2 einen zusätzlichen Leistungserbringer im KVG ermöglichen: Gesundheitsfachpersonen sollen sich zu Netzwerken zur koordinierten (ambulanten) Versorgung zusammenschliessen können. Ziel ist es gemäss BAG [4], dass sich Strukturen, wie es sie heute mit den HMO-Modellen schon gibt, noch mehr verbreiten und auch für Personen zugänglich sind, die keine besondere Versicherungsform gewählt haben.
Ein Labyrinth aus Regulatorien: So erscheint das zweite Kostendämpfungspaket.
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Kompliziert und veraltet

Die SWICA begrüsst die Absicht des Bundesrates, die integrierte Versorgung zu fördern. Der Vorschlag bewirke aber genau das Gegenteil. Die vom Bundesrat vorgesehenen Netzwerke der koordinierten Versorgung als neue Leistungserbringer seien nicht zielführend. «Der Bundesrat will damit den Entwicklungsstand der 1990er Jahre im Gesetz festschreiben», so die SWICA.
Dass die neuartigen Netzwerke unter ärztlicher Leitung stehen müssen und einer Zulassung und eines Leistungsauftrags seitens der Kantone bedürfen, kritisiert die SWICA ebenso wie die geforderten Verträge über Zusatzkosten für besonders komplexe Fälle. All dies führe zu einem grossen administrativen Aufwand und mache die interprofessionelle Zusammenarbeit für Leistungserbringer kompliziert und unattraktiv. So fielen die Flexibilität und Vorteile der heutigen Modelle der integrierten Versorgung weg. «Integrierte Versorgung ist ein lernendes System, sie braucht den Raum zur Weiterentwicklung», schreibt die SWICA. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Versicherern und Leistungserbringern sei dabei zentral. Dies bestehe schon heute und habe etwa die Etablierung von Disease-Management-Programmen ermöglicht.

Fehlanreize bleiben

Auch die Helsana kritisiert die neuartigen Netzwerke zur koordinierten Versorgung: Sie erhöhten den administrativen Aufwand, basierten auf starren staatlichen Vorgaben und würden die im heutigen System bestehenden Fehlanreize auf keine Art und Weise beheben. «Die Frage stellt sich, warum der Bundesrat die medizinische Versorgung überhaupt so detailliert und unnötig regulieren will», so die Helsana. Die bisher wirkungsvollen und auf Freiwilligkeit basierenden Rahmenbedingungen hätten bereits zu einer koordinierteren Versorgung in Ärztenetzen geführt. Eine neue Kategorie von Leistungserbringern sei schlicht unnötig.

Planwirtschaftliches Instrument

Für den Dachverband santésuisse schlägt der Bundesrat mit der Stärkung von Netzwerken zwar die richtige Richtung ein. In der koordinierten Versorgung liege ein gewisses Potenzial für mehr Effizienz und höhere Qualität – die Gefahr von Mehrfachbehandlungen könne eingegrenzt werden. Allerdings lehnt santésuisse kantonale Leistungsaufträge als Voraussetzung für die Zulassung der Netzwerke ab: «Dies entspricht einem planwirtschaftlichen Instrument und erstickt die Innovationspotenziale der Netzwerke im Keim.» Stattdessen sollten Netzwerke von den Gesundheitsakteuren selber vorangetrieben werden. Schon heute bestünden zahlreiche entsprechende Angebote, die zwischen Leistungserbringern und Versicherern ausgehandelt wurden.
Auch der Dachverband curafutura lehnt die Regulierung in einem Bereich ab, der bereits heute ohne gesetzliche Vorgaben erfolgreich funktioniere. Es liege im ureigenen Interesse der Leistungserbringer und Krankenversicherer, sich für die integrierte Versorgung einzusetzen. «Den grossen Gestaltungsspielraum aufgrund der heutigen gesetzlichen Regelung für die Branchenpartner im Bereich der alternativen Versicherungsmodelle gilt es zu bewahren», so curafutura.
Verschiedene geplante Massnahmen könnten den bürokratischen Aufwand erhöhen.
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Geheime Rabatte

Der zweite der umstrittensten Punkte des Massnahmenpakets 2 betrifft die Preismodelle bei Arzneimitteln. Der Bundesrat soll gemäss der Vorlage die Kompetenz erhalten, zu regeln, wie und wann Preismodelle eingesetzt werden. Damit soll ein rascher und möglichst kostengünstiger Zugang zu innovativen, teuren Arzneimitteln gesichert werden. Dabei soll es bei sehr hohen Rückerstattungsbeträgen auch möglich sein, vertrauliche Preismodelle umzusetzen – wie dies heute in der Praxis bisweilen schon der Fall ist.
Für die Helsana und ihren Dachverband curafutura sind die Folgen dieser Massnahme genau das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Durch die Intransparenz bei den Preisen würden die Kosten stärker und rascher steigen. Denn weder Leistungserbringer noch die Patienten oder deren Versicherung könnten bei der Therapieentscheidung das Kosten-/Nutzenverhältnis einbeziehen.

Verwaltungsaufwand wird steigen

Gemäss SWICA fehlt es an einer Koordination der verschiedenen derzeit laufenden Revisionen im Bereich der Arzneimittelpreise. Das Massnahmenpaket 2 führe zu wesentlich mehr Preismodellen, was den Verwaltungsaufwand weiter erhöhe. Preismodelle seien nicht per se schlecht, bedingten aber klare Kriterien für eine seriöse Rechnungskontrolle: «Bei Preismodellen ohne klare Kriterien oder mit geheimen Rückerstattungen besteht immer die Gefahr, dass überhöhte Preise für Arzneimittel bezahlt werden», so die SWICA.

Geheime Rabatte als Realität

Für santésuisse sind Preismodelle im Kontext moderner hochpreisiger Therapien eine Notwendigkeit. Geheime Rabatte bei Preisverhandlungen seien im internationalen Kontext eine Realität. Allerdings könnten sie höchstens kurzfristig kostendämpfend wirken. Es bestehe die Gefahr, dass die kostendämpfende Wirkung mit der Zeit nachlasse, weil die gewährten Rabatte sinken. «Die Transparenz bei den Medikamentenpreisen ist ein hohes Gut, das nicht leichtfertig geopfert werden darf», schreibt santésuisse. So sei es zumindest nötig, geheime Rabatte zeitlich zu begrenzen – auf drei bis fünf Jahre. Zu prüfen seien zudem insbesondere bei teuren Therapien Pay-for-performance-Vergütungen.

Unklare Kostenfolgen

Im Gesamtfazit stösst auch das nach der Vernehmlassung angepasste Massnahmenpaket 2 zum KVG bei den Versicherern in zentralen Punkten auf Ablehnung. Für santésuisse haben die meisten Vorschläge einen geringen Effekt auf das Kostenwachstum oder können teilweise sogar zu Mehrkosten führen. «Diverse vorgeschlagene Massnahmen lösen grossen bürokratischen Aufwand aus», so santésuisse.
Für die Helsana ist nicht ersichtlich, was der Bundesrat mit der Vorlage wirklich erreichen will. Keine der aufgeführten Massnahmen habe eine kostendämpfende Wirkung. «Die Botschaft zur Vorlage gipfelt in der Tatsache, dass der Bundesrat keine quantitative Einschätzung zum Kostendämpfungseffekt vorgelegt hat. Das ist mehr als dünn für ein Kostendämpfungspaket», schreibt die Helsana.
Auch curafutura lehnt das Massnahmenpaket in dieser Form ab und bemängelt eine realistische Abschätzung der Regulierungsfolgen und eine konkrete Aussage zu den Kostenfolgen. Die Vorlage verschlechtere die Rahmenbedingungen für eine Weiterentwicklung von neuen integrierten Versorgungsmodellen, schwäche die Tarifpartnerschaft und stelle einen weiteren Schritt zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens dar.
Interessanterweise sieht der Bundesrat genau in den beiden umstrittensten Massnahmen der Preismodelle und der Netzwerke das grösste Sparpotenzial der Vorlage. Allerdings räumt die Regierung in der Botschaft zur Vorlage in der Tat ein: «Wie hoch die Einsparungen konkret sein werden, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Dies hängt davon ab, wie die Massnahmen von den Akteuren des Gesundheitswesens umgesetzt werden.» Der Bundesrat spielt den Ball damit zurück. Allerdings wird in der Botschaft zum Massnahmenpaket auch klar, dass diverse Fragen erst auf der Verordnungsstufe geregelt werden sollen.

Was die Versicherer wollen

An alternativen Vorschlägen seitens der Versicherer mangelt es nicht. Die SWICA fordert vom Bundesrat, die Rahmenbedingungen für die Tarifpartner so zu gestalten, dass es attraktiv sei, sich für die integrierte Versorgung zu engagieren. Es gelte die Tarifpartnerschaft zu stärken. Dazu sollten vertragliche Vereinbarungen zwischen Versicherern und Kostenträgern unter anderem die Finanzierung von koordinativen Leistungen sicherstellen.
Santésuisse fordert mehr Wettbewerb, verbindliche Qualitätsvorgaben und Massnahmen gegen die Über- und Fehlversorgung. Gefragt seien Lösungen, die auf bessere Anreize und Wettbewerb setzen, um das Kostenwachstum nachhaltig zu dämpfen.
Für Helsana und curafutura ist die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) zentral, um bestehende Fehlanreize zu beheben und die Spareffekte der koordinierten Versorgung zu erhöhen. Die Helsana arbeite seit vielen Jahren partnerschaftlich mit Ärztenetzen zusammen. Dies, um nachhaltige Modelle zu entwickeln, in denen effektiv eine bessere Koordination des ganzen Behandlungspfads erfolge. Zentral sei dabei auch die Nutzung von Daten, um gemeinsam die Versorgungsqualität zu verbessern.

«Sehr kritische Stellungnahmen»

Für Diskussionen im Parlament ist somit gesorgt, wenn die Vorlage 2023 im Parlament behandelt werden wird. Dies hat im Oktober auch die erste Sitzung der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates zu diesem Geschäft gezeigt. Die Kommission hat dabei Vertretungen der Kantone, der Leistungserbringer, der Patientinnen und Patienten, der Krankenkassen und anderer Organisationen angehört. Das Fazit nach der Sitzung [5]: Die Stellungnahmen zu den Massnahmen des Bundesrates fielen «sehr kritisch und unterschiedlich» aus. Was den Aspekt der koordinierten Versorgung anbelangt, so hat die Kommission aufgrund des starken Widerstandes Mitte November die Verwaltung beauftragt [6], an einem runden Tisch eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.

KVG-Änderung: Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2

Der Bundesrat hat die Botschaft zur entsprechenden Änderung des KVG am 7. September 2022 verabschiedet. Sie wird 2023 im Parlament behandelt werden. Die Vorlage schafft die Rechtsgrundlagen für folgende Massnahmen:
Netzwerke zur koordinierten Versorgung als neue Leistungserbringer
Differenzierte WZW-Prüfung
Preismodelle und Rückerstattungen
Ausnahme vom Zugang zu amtlichen Dokumenten betreffend die Höhe, Berechnung und Modalitäten von Rückerstattungen
Referenztarife für eine schweizweit freie Spitalwahl
Elektronische Rechnungsübermittlung
Leistungen der Apotheker und Apothekerinnen
Präzisierung der Kostenbeteiligung bei Mutterschaft