«Als würde man die Wassertemperatur mit dem Meterstab messen»

Interview
Ausgabe
2022/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21270
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(48):18-21

Publiziert am 30.11.2022

Qualitätsmessung Was war gut? Was weniger? Um die Qualität in der Medizin zu sichern, werden jede Menge Daten gesammelt und ausgewertet. Ein Gespräch mit Johann Steurer, Mitglied des Qualitätsboards des Universitätsspitals Zürich, über Sinn und Unsinn dieser Messungen.
Johann Steurer, wir alle wünschen uns eine qualitativ hochstehende Medizin. Sie bezweifeln jedoch, dass die jetzigen Qualitätsmassnahmen wirklich dazu beitragen, das zu erreichen. Warum?
Ich zweifle natürlich nicht daran, dass man auf Qualität achten und sie verbessern soll. Doch frage ich mich, ob die Qualitätsmessungen und -massnahmen in den Spitälern und Arztpraxen wirklich etwas bringen. Mir sind bis jetzt keine Studien bekannt, die nachweisen, dass diese einen nachhaltigen Effekt haben.
Was ist mit Initiativen wie «smarter medicine – Choosing Wisely», die doch zu einer Verbesserung bei gewissen Behandlungen führen?
Natürlich gibt es Studien, die Verbesserungen, allerdings sehr geringe, belegen, wenn der Fokus spezifisch auf einen Parameter gelegt wird. Aber ob die Verbesserung anhält, wenn der Fokus nicht mehr darauf liegt, das ist die Frage.
Und was ist mit den Qualitätsdaten, die erhoben werden? Helfen Sie nicht dabei, Fehlerquellen in der medizinischen Praxis aufzudecken und so die Qualität zu steigern?
Die Frage ist, wofür die Daten erhoben werden. Denn was sich immer wieder zeigt: Wenn Daten erhoben und im Team besprochen und entsprechende Massnahmen getroffen werden, dann hat das einen grösseren Effekt auf die Qualität, als wenn die Daten gesammelt werden, um sie weiterzugeben und zu veröffentlichen. Und es kommt noch eine wichtige Frage hinzu: Erfasst man mit diesen Daten wirklich die Qualität oder misst man einfach das, was messbar ist? Für mich wirkt es manchmal, als würde man die Wassertemperatur mit einem Meterstab messen.
Zweifeln Sie also an der Aussagekraft der Daten?
Genau. Nehmen wir als Beispiel die Patientenzufriedenheit. Natürlich ist diese wichtig. Nur wissen wir nicht, weshalb die Patientinnen und Patienten eine schlechte Bewertung abgeben. War das Essen nicht gut? Hat der Fernseher nicht funktioniert oder war die Belegschaft unfreundlich? Wir wissen nicht, was hinter der Beurteilung steckt. Deshalb sagt die Patientenzufriedenheit praktisch nichts über die Behandlungsqualität aus. Ausserdem gibt es bisher keine verlässliche Methode, die die Unterschiede in den Patientenkollektiven zwischen den Spitälern oder Praxen ausgleichen kann. Dadurch werden die Daten schwer interpretierbar und oft nicht vergleichbar. Das betrifft zum Beispiel Daten zur Sterblichkeit oder dem Outcome nach Operationen.
Das klingt sehr pessimistisch. Wäre es dann am besten, keine Qualitätsmessungen mehr durchzuführen?
Ich bin nicht prinzipiell gegen die Messungen. Ich glaube aber, dass man priorisieren muss, was man misst. Kriterien für die Priorisierung sollten der erwartbare Effekt auf die Behandlungsqualität, die Machbarkeit sowie die Kosten sein. Letzteres ist ein ganz zentraler Punkt: Was kostet die Erhebung dieser Qualitätsdaten und wer bezahlt für diesen Aufwand? Es gibt in der Schweiz bisher nicht einmal Angaben zu den durch die Datenerfassung entstehenden Kosten.
Wer wäre aus Ihrer Sicht für diese Priorisierung zuständig?
Die Eidgenössische Qualitätskommission sollte sich mit der Qualitätsbewegung in der Medizin auseinandersetzten. Sie sollte eine Liste von sinnvollen und relevanten Parametern erstellen und diese auch in Relation zu den Kosten stellen. Dann kann jeweils abgewogen werden, ob das Qualitätsproblem gross genug ist, um die Kosten der Messungen zu rechtfertigen.
Was meinen Sie, wenn Sie von einer «Qualitätsbewegung» sprechen?
Die Qualitätsbewegung hat vor ungefähr 20 Jahren angefangen. Den Anstoss gab das Buch «To err is human», das vom US-amerikanischen Institute of Medicine publiziert wurde. Hinzu kamen Untersuchungen, die regionale Versorgungsunterschiede aufdeckten. Am bekanntesten ist hier die Forschung von John Wennberg. Daraufhin wurden zuerst in den USA und bald auch in der Schweiz Qualitätsinitiativen eingeführt. Es wurde sogar diskutiert, ob ein nationales Qualitätsinstitut gegründet werden soll.
Dazu ist es nicht gekommen.
Nein dazu nicht. Aber wir sind heute so weit, dass Spitäler Qualitätsdaten an die Gesundheitsdirektion, an den nationalen Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken und an Zertifizierungsagenturen schicken müssen. Und dann gibt es noch Daten zur hochspezialisierten Medizin, die ebenfalls an die entsprechenden Institutionen geschickt werden müssen. Das ist ein massiver Aufwand, den die Ärztinnen und Ärzte zusätzlich zu ihren anderen Aufgaben erledigen müssen.
Gibt es noch weitere unbeabsichtigte Auswirkungen der Qualitätsmessungen?
Es gibt zwei interessante Beispiele aus den USA: Das eine ist eine Studie zu Rehospitalisationen. Als Qualitätskriterium sollten ungeplante Rehospitalisationen möglichst tief gehalten werden. Die Folge war, dass Patienten nicht hospitalisiert wurden, weil die Spitäler sonst weniger Geld erhalten hätten. Als Folge sind in dieser Gruppe mehr Menschen gestorben als in der Gruppe, in der dieses Kriterium nicht galt. Das ist ein nicht gewollter Effekt. Ein zweites Beispiel ist das Bezahlkonzept Pay for Performance, das in den USA und anderen Staaten bereits existiert. Eine Studie zeigte: Wenn beispielsweise festgelegt wurde, dass bei Diabetikern die Blutzuckereinstellung als Kontrollparameter für die Messung der Behandlungsqualität gilt, fokussierten alle darauf. Dafür wurde der Blutdruck weniger gut behandelt.
Hier führte der Fokus auf Qualität sogar zu einer Verschlechterung von Qualität. Wie kann das sein?
Dazu fällt mir ein Zitat von Donald Berwick ein, einem der Mitbegründer der Qualitätsbewegung in den USA. Berwick äusserte sich vor ein paar Jahren selbst kritisch über die Bewegung. Er meinte, dass in der Medizin ein geradezu magisches Denken vorherrsche: Wenn genügend gemessen wird und diese Messungen mit Belohnungen verknüpft werden, werden Wunder geschehen. Doch dem ist nicht so.
Welche Alternativen zu den Qualitätsmessungen gäbe es? Was würden Sie vorschlagen?
Aus meiner Sicht müsste die Professionalität gefördert werden. Darunter verstehe ich das Handeln mit allen wünschenswerten Eigenschaften, die von einem Arzt in seinem Fachgebiet unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise erwartet werden können. Dazu gehören die fachliche Kompetenz, die kommunikative Kompetenz, Empathie und die persönliche Integrität – also unter den gegebenen Umständen ausschliesslich im Interesse des Patienten zu handeln. Wenn diese Eigenschaften vorhanden sind, dann ist das Fundament für gute Qualität gelegt.
Und wie kann diese Professionalität gefördert werden?
Die Professionalität kommt zum Tragen, wenn die Leute motiviert sind, und Menschen kann man mit Wertschätzung motivieren. Und hier sind wir wieder bei den Qualitätsmessungen: Durch diese Qualitätsmessungen wird die intrinsische Motivation der Ärzte unterminiert. Erstens werden die Messungen von aussen aufgezwungen und zweitens erwecken sie das Gefühl, dass es ein Misstrauen gegen die von ihnen geleistete Arbeit gibt. Dass es eine Kontrolle braucht, weil sie es nicht richtig machen.
Sie gehen davon aus, dass die Motivation bei den Ärztinnen und Ärzten eigentlich vorhanden ist?
Ja. Der allergrösste Teil von ihnen will etwas Gutes tun und den Patientinnen und Patienten helfen. Das bedeutet, sie haben eine intrinsische Motivation. Und aus dieser Motivation setzen sie sich dafür ein, Fehler aufzudecken und ihre Arbeit zu verbessern. Dafür sprechen beispielsweise die Qualitätszirkel in Praxen und Spitälern. Diese sind aus meiner Sicht ein viel erfolgversprechenderes Konzept: Man kann die Probleme im vertrauten Kreis direkt ansprechen und Verbesserungen einleiten.
Prof. em. Dr. med. Johann Steurer, Universitätsspital Zürich
«Durch die Qualitätsmessungen wird die intrinsische Motivation der Ärzte unterminiert», ist Johann Steurer überzeugt.
© Werner Rolli
Wollen Sie damit sagen, man sollte die Ärztinnen und Ärzte einfach ihre Arbeit machen lassen und es wird gut kommen?
Nicht ganz. Es wäre naiv zu glauben, dass es mit der Förderung der Motivation allein getan ist. Mein Plädoyer ist, weniger zu messen, dafür aber die relevanten Parameter. In einem Pilotversuch könnte die Machbarkeit getestet und der Aufwand und die damit verbundenen Kosten erfasst werden. Und die erhobenen Qualitätsdaten sollten mehr in den Spitälern und Praxen bleiben.
Zum Abschluss: Sie sind an der Organisation des gemeinsamen Medizinmasterstudiengangs der Universitäten Zürich, St. Gallen und Luzern beteiligt. Was würden Sie Medizinstudierenden zum Thema Qualität mit auf den Weg geben?
Qualität kann ich nur dann bieten, wenn ich fachlich sehr gut bin. Das reicht allein natürlich nicht aus, um ein guter Arzt zu sein. Aber es ist die Voraussetzung dafür, es überhaupt werden zu können. Deshalb ist es unser Beitrag als Medizinerinnen und Mediziner, den Studierenden das nötige Fachwissen beizubringen, das sie in ihrem Beruf brauchen.

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Weitere Einschätzungen von Prof. em. Dr. med. Johann Steurer zum Thema der Qualität in der Medizin sind in einem Gastkommentar im Tagesanzeiger erschienen, den Sie via QR-Code aufrufen können.
Prof. em. Dr. med. Johann Steurer, Universitätsspital Zürich
Prof. em. Dr. med. Johann Steurer ist Mitglied des Qualitätsboards des Universitätsspitals Zürich und Delegierter der Medizinischen Fakultät für das Bildungsnetzwerk Medizin.
© Werner Rolli