Genetische Beratung: Konzepte, Missverständnisse, Perspektiven

Organisationen
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21273
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):34-36

Affiliations
Für den Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG).
a Prof. Dr. med., Medizinische Genetik, Institut für Medizinische Genetik und Pathologie, Universitätsspital und Universität Basel; b Prof. Dr. sc. nat., Medizinische Genetik, Institut für Medizinische Genetik und Pathologie, Universitätsspital und Universität Basel; c MD PhD, Service de Médecine génétique, Hôpitaux Universitaires de Genève; d Dr. sc. nat. Universitätsklinik für Hämatologie, Inselspital Bern; e Prof. Dr. med., Institut für Medizinische Genetik, Universität Zürich; f Prof. Dr. med., Service de Médecine génétique, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne

Publiziert am 07.12.2022

Genetische Beratung Die Medizinische Genetik hat sich von einem Randgebiet zu einer zentralen klinischen Disziplin in der Medizin entwickelt. Der enorme Wissenszuwachs der letzten Jahre zu Phänotypen und Genotypen, zu Ätiologie und Verlauf seltener und häufiger Krankheiten wirkt sich auf alle Fachbereiche der klinischen Medizin aus. Viele haben jedoch nur eine vage Vorstellung, was eine genetische Beratung beinhaltet.
Bedeutend ist dabei nicht nur der Einfluss auf Diagnose-, Behandlungs- und Präventionsstrategien für den Einzelnen, sondern auch für die Nachkommen und die weiteren Verwandten verschiedener Generationen. Viele haben jedoch nur eine vage Vorstellung davon, was eine genetische Beratung eigentlich ist oder was sie beinhalten sollte. In den angelsächsischen Ländern bezeichnet «genetic counselling» eine genetische Beratung im engeren Sinne eines umschriebenen und anerkannten Kommunikationsprozesses innerhalb der Medizinischen Genetik. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff jedoch in einem sehr viel weiteren Sinne verwendet. Hier ist die genetische Beratung nicht isoliert, sondern umfasst vor allem auch klinisch-diagnostische Überlegungen, die klinische Untersuchung des Patienten, Differenzialdiagnosen, die Indikationsstellung laborgenetischer und genomischer Untersuchungen, Interpretation von Resultaten und so weiter [1]. Die einzige formale und eidgenössisch akkreditierte Weiterbildung in der Schweiz, die alle Kompetenzen für die genetische Beratung im weiteren Sinne abdeckt, ist derzeit die Weiterbildung zur Fachärztin beziehungsweise zum Facharzt für Medizinische Genetik/Spécialiste en génétique médicale.
Während die genetische Beratung im Rahmen von Gentests in der Schweiz gesetzlich geregelt ist und einen wichtigen Anwendungsbereich darstellt, gehen ihre Inhalte, Anwendungen und Verantwortlichkeiten weit darüber hinaus. Werden letztere nicht berücksichtigt, birgt dies einen Qualitätsverlust und kann zu unklaren oder falschen Empfehlungen mit weitreichenden Folgen für die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen führen.
Angesichts der wachsenden Bedeutung der Genetik in der klinischen Medizin möchte die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) die in der Schweiz verwendete Nomenklatur für die genetische Beratung klären und Missverständnisse über Inhalte, Qualifikationen und Verantwortungen ausräumen.
Eine genetische Beratung berücksichtigt die individuelle Situation der Patientinnen und Patienten und wird immer komplexer.
© Jezper / Dreamstime

Definition und Grundsätze

Die genetische Beratung stützt sich auf drei grundlegende Säulen: 1) eine diagnostische Komponente, ohne die jede Beratung eine unsichere Grundlage hat, 2) eine Risikoeinschätzung, die in manchen Situationen einfach und in anderen komplex sein kann, und 3) eine unterstützende Rolle, die sicherstellt, dass die Ratsuchenden von der Beratung und den verschiedenen verfügbaren Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten profitieren können [2].
Genetische Beratung im engeren angelsächsischen Sinne ist ein Prozess, der einer Person hilft, die medizinischen, psychologischen und familiären Implikationen von genetischen Faktoren für eine Krankheit zu verstehen und sich darauf einzustellen [3]. Eine genetische Beratung liefert genaue und aktuelle wissenschaftliche und medizinische Informationen, berücksichtigt dabei jedoch die persönliche medizinische Vorgeschichte, die Familiengeschichte und die individuelle psychosoziale Dimension. Sie umfasst auch die Unterstützung von Patientinnen und Patienten oder Ratsuchenden bei der Weitergabe von genetischen Informationen an andere Familienmitglieder (American Society of Human Genetics, 1975).
Die genetische Beratung beruht auf mehreren Grundprinzipien: die Qualität der bereitgestellten Informationen, die Achtung der Autonomie des Einzelnen und die Nichtdirektivität. Sie vermittelt komplexes Wissen und Informationen in verständlicher Form, die an die ratsuchende Person angepasst und ihr nützlich ist. Sie erleichtert ihr oder ihm die sogenannte «informierte Entscheidungsfindung», indem sie persönliche Überzeugungen, Werte, Fakten und Konsequenzen in der bestimmten Situation berücksichtigt. Nichtdirektivität garantiert den Respekt vor der Autonomie und den Wahlmöglichkeiten des Einzelnen, was aber nicht bedeutet, dass man vage bleibt oder so viele Optionen präsentiert, dass die oder der Ratsuchende nicht mehr in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen [2]. Auch die psychologischen Aspekte von Patientinnen und Patienten oder Familien, die mit einer genetischen Erkrankung oder einem genetischen Risiko zu tun haben, müssen berücksichtigt werden [2].
Da eine genetische Erkrankung zu einem Wiederholungsrisiko für künftige Nachkommen führen kann, muss sie sich auch mit reproduktiven Optionen wie pränatalen Screening- und diagnostischen Untersuchungen sowie Präimplantationstests befassen. Da genetische Informationen auch eine Bedeutung für andere Familienangehörige haben können, muss sich eine genetische Beratung auch mit potenziellen weiteren familiären Risiken auseinandersetzen und auf Verwandte hinweisen, die von den Informationen profitieren könnten. Sie soll die Kommunikation in der Familie fördern, sodass anderen Familienmitgliedern eine genetische Beratung angeboten werden kann. Die Entscheidung, ein potenzielles genetisches Risiko nicht zu kennen, das sogenannte Recht auf Nichtwissen, muss ebenfalls respektiert werden. Im Zusammenhang mit präsymptomatischen Tests folgt die genetische Beratung etablierten internationalen klinischen Leitlinien [4].
Eine «Genetische Beratung» im weiteren Sinne, wie sie in der Schweiz und in anderen deutschsprachigen Ländern etabliert ist, umfasst auch eine klinische Konsultation mit körperlicher Untersuchung, um Verdachtsdiagnosen anderer Fachärztinnen und Fachärzte weiter abzuklären oder Differenzialdiagnosen bei einer Patientin oder einem Patienten ohne bisherige Diagnose zu stellen. Auf Grundlage der klinisch-genetischen Beurteilung und der klinischen Untersuchung kann die weitere genetische Teststrategie gewählt werden und gegebenenfalls die geeignete genetische Laboruntersuchung verordnet, sowie die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung geklärt werden. Ergebnisse der genetischen Laboruntersuchung müssen im Zusammenhang mit den klinischen Befunden und der Familiengeschichte der Patientin beziehungsweise des Patienten bezüglich ihrer Aussagekraft bewertet werden. Solche Phänotyp-Genotyp-Korrelationen und die Interpretation von genetischen Testergebnissen/Varianten im individuellen klinischen Kontext der Patientinnen und Patienten sind wichtige fachärztliche Kompetenzen in der Genetik, die im Zeitalter der Hochdurchsatz-Genomik und anderer sogenannter Omics-Technologien immer anspruchsvoller und zugleich auch immer gefragter werden. Weitere Empfehlungen für das klinische Management sowie die Bewertung des Risikos für Familienmitglieder und deren individuelle Bedürfnisse sind ein wichtiger Bestandteil der klinisch-genetischen Patienten- und Familienbetreuung. Das Angebot, Familien mit Patientenvertretungsgruppen und -organisationen in Verbindung zu bringen und mit diesen zusammenzuarbeiten, ist ebenfalls Teil der Beratung.

Aktuelle und zukünftige Konzepte

Die einzige formale und eidgenössisch akkreditierte Weiterbildung in der Schweiz, die alle oben genannten Kompetenzen für die genetische Beratung im weiteren Sinne abdeckt, ist derzeit die Weiterbildung zur Fachärztin und Facharzt für Medizinische Genetik/Spécialiste en génétique médicale. Fachärztinnen und Fachärzte für Medizinische Genetik leisten wichtige Beiträge zur interdisziplinären Mitbeurteilung von Patientinnen und Patienten, sie arbeiten mit vielen Disziplinen in interdisziplinären Konsultationen und Gremien zusammen, mit anderen Fachgesellschaften bei der Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten für die spezifischen genetischen Fragestellungen dieser Disziplinen sowie bei der Aus- und Weiterbildung von nichtärztlichem Personal, der Lehre für Studenten und der Forschung.
Angesichts der steigenden Nachfrage nach genetischen Tests in der klinischen Routine hat die SGMG in einem aktuellen Positionspapier [1] Konzepte für die Ressourcenschaffung für eine breitere Implementierung der genomischen Medizin erarbeitet.
Dazu gehört die Implementierung von Fortbildungsangeboten für andere klinische Fachärztinnen und Fachärzte, um sie zu befähigen, genetische Beratungen im Rahmen von Gentests, zum Beispiel zum vererbbaren Brustkrebsrisiko, durchzuführen, die neu von Ärztinnen und Ärzten erbracht werden können, die einen entsprechenden strukturierten Fortbildungskurs der SAKK besucht haben und eine dokumentierte Kooperation mit einer Fachärztin oder einem Facharzt für Medizinische Genetik haben [5]. Letzteres ist notwendig, weil scheinbar einfache Routinefälle sehr komplex werden können und das vertiefte klinisch-genetische Wissen eines Facharztes für Medizinische Genetik erfordern können.
Darüber hinaus sieht die SGMG Potenzial in der Förderung des Berufsbildes des «Genetic Counsellors». Genetic Counsellors sind in vielen Ländern etablierte, nichtärztliche Gesundheitsfachkräfte, welche die genetische Medizin in multidisziplinären Teams unter der Verantwortung einer Fachärztin beziehungsweise eines Facharztes für Medizinische Genetik unterstützen, wie zum Beispiel in Frankreich umgesetzt [6] und nun auch für Deutschland und Österreich diskutiert [7].
Genetic Counsellors, die auf Masterniveau ausgebildet sind und sowohl genetisches Wissen als auch Beratungsfähigkeiten erwerben, können bei steigendem Bedarf nach genetischen Beratungen Fachärzte für Medizinische Genetik unterstützen. Zum Beispiel können Familienmitglieder in einer Familie mit einer eindeutigen Diagnose und einer bekannten familiären Mutation eine genetische Beratung in Anspruch nehmen, um ihr eigenes Risiko für die bekannte familiäre Störung zu kennen oder, je nach Erkrankung und Vererbungsmodus, ihr Risiko für Trägerschaft zu verstehen. Genetic Counsellors können diese Familienmitglieder auch über das Wiederholungsrisiko für eine künftige Schwangerschaft informieren und Möglichkeiten für pränatales Screening und Diagnostik sowie für genetische Präimplantationstests erörtern. Sie können die Entscheidung für oder gegen weitere Tests erleichtern, die genetische Beratung vor und nach dem Test unterstützen und bei der Mitteilung der Ergebnisse, der persönlichen Unterstützung sowie der Koordinierung zwischen den verschiedenen beteiligten Disziplinen und Betreuungspersonen mitwirken. Da es Beratungssituationen gibt, die prima vista unkompliziert erscheinen, jedoch kurzfristig dann eine zusätzliche fachliche, klinisch-genetische und diagnostische (Neu-)Bewertung erfordern, muss die genetische Beratung durch Genetic Counsellors unter fachlicher Verantwortung eines Facharztes für Medizinische Genetik erfolgen [8], um die medizinisch-wissenschaftlichen Standards zu wahren. Ansonsten kann es zu Fehleinschätzungen kommen, die zum Beispiel das Wiederholungsrisiko betreffen oder auch die Testindikation oder -auswahl, die zuvor durch einen nichtgenetischen Facharzt erfolgt sind.
Bislang gibt es in der Schweiz keine Ausbildung zum Genetic Counsellor, keine Standards für Weiter- und Fortbildung, und der Beruf ist, mit Ausnahme des Kantons Waadt, nicht formell anerkannt. Frankreich, Italien und Österreich bieten jedoch inzwischen einen Masterstudiengang in genetischer Beratung an, der vom European Board of Medical Genetics (EBMG) [9] anerkannt ist. Darüber hinaus hat das EBMG im Jahr 2014 ein europäisches Registrierungsverfahren für Genetic Counsellors eingeführt [10]. In der Romandie sind bereits einige Genetic Counsellors tätig, die zumeist in Frankreich ausgebildet wurden und unter der Verantwortung von Fachärzten für Medizinische Genetik stehen. Die GUMEK hat vor kurzem eine Studie zur Perspektive der formellen Einführung des Berufsbildes in der Schweiz durchgeführt [11]. Diese Arbeit bezieht sich jedoch spezifisch nur auf die genetische Beratung im Zusammenhang mit genetischen Tests und bewertet daher nicht den gesamten Bedarf an genetischer Beratung im weiteren Sinne wie oben beschrieben. Genetic Counsellors können jedoch die oben genannten ärztlichen Kompetenzen von Fachärzten für Medizinische Genetik für die verschiedenen Anwendungen der genetischen Beratung nicht ausfüllen oder ersetzen, sodass parallel zur Etablierung dieses Berufsbildes auch die Kapazitäten für die Weiterbildung zum Facharzt Medizinische Genetik ausgebaut werden müssen. Genetische Untersuchungen sind in der Schweiz im «Gesetz für genetische Untersuchungen am Menschen / Loi fédérale sur l’analyse génétique humaine» (GUMG/LAGH) [12] geregelt und legen die Anforderungen an die genetische Beratung vor und nach dem Test fest.
Wie in anderen Ländern bereits vorbildlich praktiziert, können Genetic Counsellors unter fachärztlicher Delegation beitragen, dass die Verfügbarkeit von genetischen Beratungen für Ratsuchende, Patienten und Familien verbessert wird. Die SGMG hat daher mit der FMH bereits eine Zusammenarbeit zur Implementierung aufgenommen. Die SGMG setzt sich für die Sicherstellung hoher Standards in der klinisch-genetischen Patientenversorgung ein.
1 Vorstand der SGMG: Filges I, Bartholdi D, Cichon S, Niedrist D, Porret N, Rauch A et al. Position der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) zur ärztlichen Patientenversorgung; Entwicklung der genetischen und genomischen Medizin in der Schweiz; Schweiz Ärzteztg. 2018;99(41):1418-1420
2 Peter S. Harper, Practical Genetic Counselling, sixth edition. 2004 by Hodder Arnold
3 Robert G Resta. Defining and redefining the scope and goals of genetic counseling. Am J Med Genet C Semin Med Genet. 2006 Nov 15;142C(4):269-75.
4 Skirton H, Goldsmith L, Jackson L, Tibben A. Quality in genetic counselling for presymptomatic testing--clinical guidelines for practice across the range of genetic conditions. Skirton H, et al. Eur J Hum Genet. 2013. PMID: 22892534
5 Netzwerk für die Testung auf eine genetische Krebsprädisposition und Risikoberatung www.sakk.ch/sites/default/files/2018-11/CPTC_Network_Membership_Website.pdf
7 Gunda Schwaninger, Heidemann S, Hofmann W, Maurer T, Mayerhanser K, Ronez J et al. Prospects and challenges for the genetic counsellor profession in the German-speaking countries: report of a workshop. Medizinische Genetik, vol.33, no.1, 2021, pp.35-44.
8 Positionspapier der SGMG zur Einführung des Berufsbildes einer/eines Genetic Counsellors in der Schweiz, 2021, www.sgmg.ch
9 Assessment of Eligibility of Masters Programs https://www.ebmg.eu/959.0.html
10 European registration process www.ebmg.eu/471.0.html
11 Amstadt H. Genetic Counsellors in der Schweiz. Bericht zuhanden der Eidg. Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen GUMEK), 08/2021