Weshalb weniger in der Medizin oft mehr ist

Wissen
Ausgabe
2022/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21298
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(47):

Publiziert am 22.11.2022

ÜberversorgungVitamin-D-Messung, MRI bei Knieschmerzen oder ausführliche präventive Gesundheitschecks: Das sind typische Beispiele für Behandlungen und Abklärungen, die nicht immer sinnvoll sind. Wo die Schweiz steht beim Thema Über- und Fehlversorgung, was noch zu tun ist – und wieso weniger manchmal mehr ist.
Die medizinischen Leistungen in der Schweiz nehmen zu. Ein Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Die Bevölkerung wird immer älter und damit gebrechlicher. Zudem gibt es mehr chronische Krankheiten, die behandelt werden müssen beziehungsweise behandelt werden können. Doch nicht jede Behandlung ist medizinisch sinnvoll. Zum Beispiel im Rahmen der Initiative smarter medicine [1] engagieren sich Fachgesellschaften gegen unnötige medizinische Eingriffe, die sich nicht medizinisch begründen lassen.
Muss es die maximale Medizin sein? Nicht in jedem Fall ist ein Eingriff sinnvoll.
© SJ Obijo / Unsplash

Patienten fordern Behandlungen ein

«Die Problematik betrifft alle medizinischen Fachgebiete», sagt Stefan Neuner-Jehle, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Professor am Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich, der sich mit Fragen zu Volumen und Qualität in der Medizin auseinandersetzt. Einen Grund für unnötige medizinische Eingriffe sieht er darin, dass in der Gesellschaft der Wunsch nach möglichst umfassenden medizinischen Leistungen gross ist und Patientinnen und Patienten diese auch einfordern. «Ärztinnen und Ärzte spüren diese Erwartungshaltung», sagt Neuner-Jehle.
Die neuen technologischen Möglichkeiten sollten allerdings wohlüberlegt genutzt werden: «Die Versuchung ist gross, ein hoch technisiertes Verfahren zu wählen, um möglichst hohe Klarheit zu erlangen», sagt Neuner-Jehle und bezeichnet dies als «Technologiefalle». Erschwerend sei auch der «action bias», also die Auffassung, dass es besser ist, etwas zu tun, als nichts zu unternehmen.
Ein Beispiel für diese zwei Fallstricke ist das Knie: Kommt ein Patient mit Knieschmerzen in eine Praxis, wird laut Neuner-Jehle niederschwelllig ein MRI angeordnet – und zwar auch dann, wenn die Schmerzen nicht von einem Unfall her rühren. «Oft wünschen auch die Patienten eine solche Untersuchung, weil sie wissen wollen, was los ist», so Neuner-Jehle. Fast alle Menschen haben mit zunehmendem Alter Abnutzungserscheinungen im Knie, diese werden bei der MRI-Untersuchung sichtbar. In der Folge werde dann oft eine Arthroskopie durchgeführt und ein Teil des Meniskus entfernt, «obwohl es nichts nützt und hohe Kosten verursacht», so der Hausarztprofessor [2].
Damit bringt er auf den Punkt, was der Verein «smarter medicine – Choosing Wisely» auf seiner Website folgendermassen formuliert: «MRIs bei Patienten mit vorderen Knieschmerzen liefern in der Regel keine zusätzliche Information.» [3] Der Verein publiziert regelmässig Top-5-Listen von aktuell 20 Fachgesellschaften, in denen auf unnütze Behandlungen in den jeweiligen Fachbereichen hingewiesen wird. Die MRI-Aufnahmen bei Kniebeschwerden stehen auf der Liste, andere Beispiele sind etwa regelmässige ausführliche Gesundheitschecks bei asymptomatischen Personen oder die Messung von 25(OH)-Vitamin D als Routine bei Personen ohne Risikofaktoren für einen Vitamin-D-Mangel.
«Gerade die MRI-Untersuchungen sind ein gutes Beispiel für die Verknüpfung von Diagnostik und daraus folgenden operativen Eingriffen», sagt Neuner-Jehle. «Es geht ja letztlich darum, eine gute Abklärung zu machen, um die Kaskade an unnötigen Behandlungen und Eingriffen zu vermeiden.» Allerdings seien auch Patientinnen und Patienten in der Pflicht, die Notwendigkeit von Interventionen kritisch zu hinterfragen – beim Knie könnten Betroffene beispielsweise darauf hinweisen, dass sie es zuerst mal mit Physiotherapie versuchen möchten. Allerdings sei das natürlich der Idealfall. «Häufig besteht der Wunsch nach maximaler Medizin», so Neuner-Jehle.

Diskrepanz zwischen Wissen und Anwenden

Immerhin: Das Bewusstsein dafür, dass diese «maximale Medizin» nicht immer das Beste ist, ist bei vielen Ärtzinnen und Ärzten bereits vorhanden, wie PD Dr. med. Carole Aubert, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, Leitende Ärztin am Inselspital und Scientific Coordinator am Berner Institut für Hausarztmedizin, festhält: «Studien [4] bei Hausärztinnen und Hausärzten zeigen, dass die überwiegende Mehrheit die smarter medicine-Empfehlungen für die Allgemeine Innere Medizin kennen und gut akzeptieren». Doch selbst wenn sie über die Fallstricke Bescheid wissen, gebe es nicht immer Konsequenzen. «Wissen und Anwenden sind zwei Paar Schuhe», sagt Stefan Neuner-Jehle. So hat eine Studie [2] im Zeitraum von 2012 bis 2015 Arthroskopien unter die Lupe genommen – es gab keinen Rückgang bei diesen Eingriffen.

Neues Anreizsystem nötig

Wie sich die Zustände ändern könnten? Dazu sagt Neuner-Jehle: «Heute wird ein Orthopäde belohnt, wenn er einen Eingriff vornimmt. Aber es müsste einen Anreiz dafür geben, bei Eingriffen zurückhaltend zu sein – einen Bonus für die so geleistete Qualität.» Zeigt die Initiative smarter medicine also gar keine Wirkung? «Kurzfristig ist der Erfolg tatsächlich beschränkt», sagt Neuner-Jehle. Allerdings geht er davon aus, dass sich langfristig etwas ändern wird, «sofern die Gesundheitspolitik die Rahmenbedingungen verändern wird».
Einen Beitrag dazu liefern auch die Qualitätszirkel, in denen sich niedergelassene Ärztinnen und Ärzte regelmässig darüber austauschen, was eine qualitative Medizin ausmacht. Und schliesslich geht es auch darum, den medizinischen Nachwuchs auf die Problematik zu sensibilisieren. An vielen Universitäten werde mittlerweile gelehrt, dass in gewissen Situationen weniger mehr ist. Allerdings ist das nicht immer einfach zu vermitteln, denn: «Die jungen Leute wollen ja erst mal das Handwerk lernen und das Gelernte auch anwenden», so der Professor. «Aber die erste Pflicht von Ärztinnen und Ärzten ist es, nicht zu schaden – und erst dann zu helfen. Das ist seit der Antike so, und an diesem Grundanspruch hat sich nichts geändert. Und das vermitteln wir auch den jungen Studentinnen und Studenten als wichtigen Grundwert.»