«Wer zeigt mir, wie man Verantwortung übernimmt?»

ReMed
Ausgabe
2022/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21299
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(4950):30-32

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Leitungsausschuss ReMed

Publiziert am 07.12.2022

ReMed Dieses Testimonial steht beispielshaft und stellvertretend für viele andere Kontaktaufnahmen bei ReMed mit ähnlicher Problematik. Es beschreibt nach der Geschichte von Person Z auch den roten Faden und damit Grundproblematiken, die auffällig regelmässig von Ratsuchenden an ReMed herangetragen werden.
Person Z meldete sich per E-Mail; die Direktheit des Telefonkontakts wäre ihr zu peinlich gewesen.
Nach ein paar E-Mails hin und her haben wir einen Telefontermin gefunden – an einem Tag, an dem sie Überstunden kompensiert. Alternativ wäre nur ein Termin nach 21 Uhr möglich gewesen.
Als erstes berichtet sie, dass ihre Probleme erst mit der ersten Stelle als Assistenzärztin begonnen hätten. In ihrem Leben sei sonst alles immer wie am Schnürchen gelaufen. Das Staatsexamen hätte sie – wie schon die Matura – mit fast einem 6er-Notendurchschnitt abgeschlossen.
Ärztinnen und Ärzte können sich in der Not an ReMed wenden.
© Marcel Eberle / Unsplash

Zum ersten Mal versagt

Beim Staatsexamen habe sie in ihrer mündlichen Chirurgie-Prüfung zum ersten Mal in ihrem Leben sozusagen versagt, das heisst nur die Note 5 erhalten. Auf die Frage, was sie denn machen würde, wenn abends zur späten Stunde ein Patient oder eine Patientin mit einer unstillbaren Blutung auf den Notfall käme und kein Oberarzt mehr da wäre, habe sie nicht mehr klar denken können. In diesem Moment habe sie zum ersten Mal bewusst Angst vor der ärztlichen Verantwortung gespürt – es sei ihr richtig schwindlig geworden.
Als sie ihre erste Stelle in einem kleineren Spital auf der Inneren Medizin angetreten habe, habe sie gehofft, dass Vorgesetzte ihr als frischgebackene Assistenzärztin zeigen würden, wie man lerne, Verantwortung zu tragen. Sie sei ernüchtert worden. Ihr Oberarzt sei grösstenteils unabkömmlich und bereits ohne ihre törichten Fragen aus ihrer puren Unerfahrenheit derart gestresst gewesen, dass sie ihn nicht noch mehr habe belasten wollen. Zwei Jahre habe sie sich durchgemogelt. Niemand habe dies wahrgenommen und die Feedbacks und Qualifikationen von Vorgesetzten seien immer gut gewesen.

Noch mehr Ängste

Vor drei Wochen habe sie eine neue Assistenzarztstelle in einer Zentrumsklinik angetreten.
Sie sei total am Boden und quäle sich jeden Morgen, die Klinik zu betreten. Sie brauche, um einigermassen sicher zu sein, sehr viel mehr Zeit als die anderen Assistenzärztinnen und -ärzte. Vor 22 Uhr komme sie nicht aus der Klinik. Die neue Oberärztin habe ihr lediglich gesagt, es sei alles in Ordnung, sie mache alles gut und die Unsicherheit sei am Anfang normal. Diese verstehe leider nicht, um was es in Wirklichkeit gehe, nämlich darum, dass sie wirklich nichts könne. Sie befürchte, man werde sie noch in der Probezeit entlassen, sie beherrsche nicht einmal verlässlich eine arterielle Blutgasanalyse. Jetzt sei sie gefangen, denn es sei zu spät, um mit Fragen zu offenbaren, was sie alles nicht wisse. Sie fresse die ganze Unsicherheit und Angst in sich hinein und es sei unglaublich anstrengend nach aussen hin zu verbergen, wie sie sich fühle. Im der Zentrumsklinik sei das Niveau der anderen Assistenzärztinnen und -ärzte sehr hoch und alle seien äusserst souverän. Es komme schlicht nicht vor, dass jemand etwas nicht wisse oder andere etwas frage. Und falls doch, sei das schrecklich peinlich.

ReMed ist für Sie da

Brauchen Sie oder jemand aus Ihrem Umfeld professionelle Hilfe? Wenden Sie sich an ReMed: Das Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte respektiert das Arztgeheimnis und berät Sie kompetent. Auch bei anderen beruflichen und persönlichen Krisen kann Ihnen ReMed Lösungswege aufzeigen. Dieses Angebot gilt auch für Personen aus dem Umfeld von Ärztinnen und Ärzten. 24 Stunden am Tag. Die ärztlichen Beratenden melden sich innerhalb von 72 Stunden: www.swiss-remed.ch, remed[at]hin.ch, Tel. 0800 0 73633.

Kultur der Allwissenheit

Am morgendlichen Radiologierapport beispielsweise sei ein anderer Assistenzarzt ausgelacht worden, weil er beim Herz-Echo einen zweiten Klappenfehler nicht erkennen konnte. Gut, eigentlich wäre dies die Verantwortung des Oberarztes gewesen, dieser hätte jedoch keine Zeit gehabt, um am besagten Rapport teilzunehmen. Die Angst war riesig, denn auch sie hätte den zweiten Klappenfehler nicht gesehen. Seither lasse sie die Angst nicht mehr los, Fehler zu machen und Patientinnen oder Patienten Schaden zuzufügen. «Ich bin allein mit meiner Angst. Niemand hat Zeit, uns zu zeigen, wie man Verantwortung übernehmen kann. Die Oberärzte haben nicht einmal Zeit, um am Radiologierapport teilzunehmen.»
Mit Z einigen wir uns, dass sie extern im vertrauensvollen Rahmen eines Coachings, das wir ihr vermitteln, in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Arztkollegen sich einen sicheren Boden für alle ihre Fragen und Unsicherheiten in ihrem Leben als Assistenzärztin aufbauen kann.

ReMed-Intervisionen für Erstberatende und Netzwerkmitglieder

Neben den Unterstützungsangeboten für ratsuchende Ärztinnen und Ärzte führt ReMed auch regionale Intervisionen zum Erfahrungsaustausch für Kolleginnen und Kollegen durch, die Ärztinnen und Ärzte als Patienten betreuen. Diese ermöglichen Vernetzung und Bildung von Peer-Groups (jeweils 6–8 Teilnehmer, 2–3 Treffen pro Jahr), welche gemeinsam Fallfragen zu Mentoring, Coaching, Beratung, Therapie oder anderen Aspekten (juristisch, versicherungsrechtlich und so weiter) erarbeiten. Setzen Sie sich mit uns in Verbindung, nehmen Sie an einer Sitzung teil und lernen Sie unsere Arbeit kennen. Kontakt und Anmeldung: info[at]remed.ch

Der rote Faden

Kompetenz, Ansprüche, Sensibilität

Es handelt sich bei diesen Ratsuchenden meistens um Assistenz- oder Oberärzte, die in ihren Qualifikationen und Beurteilungen von Vorgesetzten durchwegs als sehr kompetent bewertet wurden. Die positiven Einschätzungen von aussen scheinen aber wirkungslos zu sein gegenüber äusserst selbstkritischen, strengen und ungenügenden Selbstbeurteilungen. Von Vorgesetzten hören sie, dass das Hauptproblem in ihren überhöhten Ansprüchen an sich selbst liege. Eine Kernaussage könnte lauten: «Ich würde mir nie erlauben, die Zeit meines Oberarztes zu beanspruchen für fachliche Fragen, die ich eigentlich nicht haben sollte – ich schäme mich für meine Wissenslücken, hinterfrage mich immer mehr und verberge meine Unsicherheit.» Andere Kollegen werden überschätzt und für ihre Unerschütterlichkeit und gute Abgrenzungsfähigkeit bewundert. Die Ratsuchenden weisen feinfühlige sensible Wesenszüge auf – also wertvolle Eigenschaften, die wir uns ausgesprochen wünschen bei einer Ärztin oder einem Arzt.

Perfektionismus und Insuffizienzgefühle

Zwanghafte perfektionistische Züge führen unter anderem zu massiven Überstunden, die wiederum Insuffizienzgefühle bestätigen. Es gibt zunehmende Ängste, Fehler zu machen und Menschen zu schaden, und allgemein Angst vor der grossen Verantwortung im Arztberuf. Diese Angst, kombiniert mit perfektionistischen Persönlichkeitszügen, blockiert nicht selten auch das Privatleben, dehnt sich manchmal auf dieses aus und blockiert neben einer beruflichen Karriere die Entfaltung von privaten Wünschen.

Die Medizin aufgeben wollen

Einige Ratsuchende sind schon im ersten Assistenzjahr am Ende ihrer Kräfte und melden sich bei ReMed mit der Frage, ob sie für den Beruf als Ärztin oder Arzt überhaupt geeignet seien. Andere melden sich erst mit der Übernahme oder im Verlauf einer Oberarztstelle. Sie fragen, ob ReMed auch Berufsberatung anbiete – sie seien unsicher, ob sie in der Medizin bleiben sollen.

Kein Raum für Unsicherheiten

Die Ratsuchenden leiden ganz besonders in einem angespannten, hektischen und oftmals angstbesetzten Arbeitsmilieu. Wenn es keinen Raum für Unsicherheiten, Ängste oder andere Gefühle von Mitarbeitenden gibt, diese systematisch vermieden werden und nicht ans Tageslicht kommen dürfen, scheinen sie sich derart in Frage zu stellen, dass sie schlussendlich nicht mehr sicher sind, den richtigen Beruf gelernt zu haben.
ReMed Svizzera, la rete di sostegno per medici (FMH), cerca colleghe e colleghi interessati a diventare consulenti di prima istanza per la Svizzera italiana.
Caratteristiche richieste: medico attivo, membro FMH e affiliato ad un Ordine cantonale. Ha fra 45 e 65 anni, pratica da almeno 10 anni, con una specializzazione in medicina interna, psichiatria e psicoterapia o in un’altra disciplina. Ha un’esperienza clinica e nel campo della medicina bio-psico-sociale.
Si tratta di un medico che interviene in situazioni difficili o di crisi concernenti colleghe/i, capace di prendere decisioni rapidamente. Lei o Lui conosce bene il sistema sanitario svizzero come anche la formazione post graduata e continua svizzera.
È sensibile alle situazioni problematiche in cui potrebbero trovarsi le/i colleghe/i di differenti specializzazioni e i medici in formazione in strutture ospedaliere.
Nel corso dei colloqui il consulente, assieme ai colleghi in difficoltà, deve cercare rapidamente delle soluzioni ai loro problemi somatici, psichici, giuridici oppure socio-economici, se necessario indirizzandoli verso altri specialisti.
I consulenti ReMed partecipano regolarmente a sedute di intervisione. Le consulenze sono remunerate dalla FMH. Per chi chiede aiuto, le consulenze sono gratuite (al massimo due ore).
Informazioni sul funzionamento di ReMed Svizzera (esistente da 12 anni) si trovano sul sito remed.fmh.ch/it/index.html
I colleghi interessati sono invitati a prendere contatto con membri del comitato direttivo di ReMed:

Dr med. Yvette Atinger Andreoli
spec. FMH psichiatria e psicoterapia
Tel studio +41 606 48 01
yvette.attinger.andreoli[at]hin.ch