«Hundertjährige haben noch Pläne im Leben»

Wissen
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21312
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):78-79

Publiziert am 21.12.2022

Hohes AlterIn einer breit angelegten Studie wird erstmals erforscht, wie es den immer mehr Hundertjährigen in der Schweiz geht. Das bringt auch der Ärzteschaft Erkenntnisse. Welche das sind, erklärt Studienleiterin Daniela Jopp von der Universität Lausanne im Gespräch.
Daniela Jopp, wieso braucht es eine Studie zu Hundertjährigen in der Schweiz?
Weil wir in der Schweiz noch kaum etwas über sie wissen, obwohl ihre Zahl stetig zunimmt. Während es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keine Hundertjährigen gab, leben derzeit rund 1800 Menschen in der Schweiz, die hundert Jahre alt und älter sind. Zudem hat jedes zweite Kind, das nach dem Jahr 2000 geboren wurde, eine sehr grosse Chance, das hundertste Lebensjahr zu erreichen. Das zeigen demografische Berechnungen für industrialisierte Länder wie die Schweiz. Eine eindrückliche Perspektive des sehr langen Lebens für viele von uns! Auch deswegen wollen wir herausfinden, wie es sich mit 100 Jahren lebt, wie es den sehr alten Menschen hierzulande geht und was ihre Bedürfnisse sind.
Viele Hundertjährige sind nicht depressiv, sondern lebensfroh.
© Eduardo Barrios / Unsplash
Was erforschen Sie konkret?
Die Kernforschungsfragen betreffen Vulnerabilität und Resilienz im sehr hohen Alter. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, ist unsere vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie interdisziplinär angelegt. Wir haben Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Biologie, Soziologie und Pflege an Bord. Innerhalb der Disziplinen untersuchen wir Fragestellungen zur Bildung, Lebenssituation und Wohnform, zur Gesundheit, zu sozialen Beziehungen und zum Wohlbefinden, aber auch zu biologischen Markern, die mit dem Altern verbunden sind.
Welche Erkenntnisse versprechen Sie sich zuhanden Medizin und Ärzteschaft?
Da wollen wir feststellen, welche Erkrankungen bei Hundertjährigen in der Schweiz auftreten. Aus vorherigen Studien in anderen Ländern wissen wir: Bestimmte Erkrankungen mit erhöhtem Mortalitätsrisiko – kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlaganfälle, Krebs – treten bei Hundertjährigen seltener auf als in der Normalbevölkerung. Ausserdem setzt die Multimorbidität, also das Auftreten mehrerer altersbedingter chronischer Erkrankungen, bei ihnen in der Regel später ein. Auch kognitive Einschränkungen sind längst nicht so verbreitet, wie man das aufgrund der steigenden Prävalenz von Demenz ab dem 60. Lebensjahr erwarten würde. Hundertjährige haben bei all diesen Themen offenbar einen Vorteil, etwas, das sie schützt, sei es durch die Genetik oder den Lebensstil. Auf der anderen Seite weisen sie Faktoren von Vulnerabilität auf, die womöglich nicht ausreichend beachtet werden.
Wo sind 100-Jährige besonders vulnerabel?
Studien aus anderen Ländern zeigen, dass die allermeisten Hundertjährigen mit Hör- und Sehproblemen kämpfen. Das ist nicht weiter verwunderlich, wird aber beispielsweise im Pflegeheimalltag nicht systematisch berücksichtigt. Dabei ermöglichen gute Hör- und Sehhilfen alten Menschen, am sozialen Alltag teilzuhaben. Das schützt sie erwiesenermassen vor Depression. Ein weiterer wichtiger Befund betrifft die Mobilität. Hundertjährige haben markante Mobilitätsprobleme. Wenig überraschend auch dies – doch lässt sich daraus der Schluss ableiten, wie wichtig Bewegung und Muskeltraining beim Älterwerden wären. Dem allem wollen wir nachgehen, weil Daten in der Schweiz dazu fehlen. Sie wären aber hilfreich, um Pflege zu planen und Ärztinnen und Ärzte auszubilden.
Wie viele Hundertjährige machen in der Studie mit, und wie steht es um ihre Motivation?
Insgesamt möchten wir 240 Hundertjährige aus drei Sprachregionen der Schweiz in der Studie berücksichtigen, entweder indem wir sie selber oder Angehörige befragen. Die Befragung erfolgt persönlich, in zwei Treffen. Wir haben letzten September begonnen und werden bis Ende Jahr wohl bereits über fünfzig Doppelinterviews durchgeführt haben. Die Hundertjährigen sind mehrheitlich sehr bereit mitzumachen. Sie freuen sich, von ihrem Leben zu erzählen und sagen zu können, was sie beschäftigt. Dennoch stellt uns die Rekrutierung zum Teil vor Herausforderungen. Einige Hundertjährige haben das Gefühl, sie könnten gar nichts mehr beitragen – wohl als Folge eines abwertenden gesellschaftlichen Altersbildes. Deshalb wären wir froh, wenn Ärztinnen und Ärzte uns unterstützen könnten.
Was können Ärztinnen und Ärzte beitragen?
Wir schreiben Hundertjährige an, damit die Studie repräsentativ wird. Es würde uns helfen, wenn die Ärzteschaft die kontaktierten Personen – aber auch weitere Hundertjährige – zur Teilnahme ermuntern könnte. Denn je mehr sehr alte Menschen oder Angehörige mitmachen, desto mehr erfahren wir über das sehr hohe Alter in der Schweiz. Hundertjährige und ihre Familien verfügen über einzigartige Erfahrungen. Unsere Studie gibt ihnen die Möglichkeit, sie zu teilen. Öffentlichkeit und Politik erhalten Grundlagen, um informierte Entscheidungen über Themen zu treffen, die sich auf die Lebensqualität der Hundertjährigen auswirken.
2021 führten Sie bereits eine Telefonstudie zum Umgang der Hundertjährigen mit der Pandemie durch. Was haben Sie herausgefunden?
Wir konnten Informationen zu 171 Hundertjährigen aus 22 Kantonen erheben. Die Altersspanne reichte von 100 bis 110 Jahre, sechzig Prozent waren Frauen. Die Befunde verdeutlichten Vulnerabilität und Resilienz zugleich. Hundertjährige, die vorher engagiert und aktiv waren, litten deutlich unter der Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen. Zugleich legten sie eine grosse Gelassenheit an den Tag. Viele sagten, sie hätten schon Schlimmeres erlebt, die Pandemie gehe vorbei. Und sie wiesen auf die ihres Erachtens viel schwierigere Situation des Gesundheitspersonals hin. Andere bekamen weniger mit, weil sie schon vorher ziemlich eingeschränkt und auf ihr Zuhause konzentriert waren.
Was ist das grösste Klischee über Hundertjährige, das aus Ihrer Sicht entlarvt gehört?
Dass alle depressiv seien. Das stimmt nicht, ganz im Gegenteil. In bisherigen Studien fanden sich sehr hohe Prozentsätze von Hundertjährigen, die zufrieden sind mit ihrem Leben und noch nicht sterben möchten. In einer Hundertjährigen-Studie in Deutschland, die ich geleitet habe, gaben 15 bis 20 Prozent an, es sei jetzt genug, sie seien bereit für den Tod. Bei der grossen Mehrheit war es hingegen anders. Sie wollten noch auf eine Geburtstagsfeier oder zur Heirat des Urenkels, sie hatten etwas, das sie gerne taten. Obwohl die verbleibende Zeitspanne kurz war, hatten die Hundertjährigen noch Pläne, Ziele und Wünsche im Leben. Mich interessiert als Forscherin, was zu dieser Zufriedenheit und positiven Einstellung – trotz gesundheitlicher Probleme, die man mit 100 unweigerlich hat – beiträgt.