Im Einsatz für die Ukraine

Hintergrund
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21324
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):12-16

Publiziert am 21.12.2022

Hilfsbereitschaft Wo Bomben fallen, ist medizinische Hilfe besonders nötig. Deshalb helfen Schweizer Ärztinnen und Ärzte in der Ukraine. Manche tun dies direkt vor Ort, andere sammeln Sachspenden oder organisieren Kooperationen zwischen Spitälern. Ein Überblick.
Die Lage in der Ukraine bewegt. Jeden Tag. Seit Beginn des Krieges bemühen sich Hilfswerke, Privatpersonen, Unternehmen oder Vereine in unterschiedlicher Weise um Hilfe. Auch Ärztinnen und Ärzte engagieren sich. Manche tun dies vor Ort, die allermeisten jedoch sind aus der Ferne tätig. So werden von der Schweiz aus zum Beispiel Sammlungen organisiert. Transporte in die Ukraine bringen neben Kleidung und Hygieneartikeln auch Medikamente, medizinische Geräte, Rollstühle oder sogar Operationstische in die Ukraine. Die Bereitschaft zu helfen ist gross, vielseitig und bemerkenswert, wie einige Beispiele zeigen.
In Lwiw hat Ulrich Exner diesen Patienten im Juli 2022 behandelt. V.l.n.r.: Patient Nazar, Ulrich Exner, der Vater des Patienten, Dr. Schchurovski.
Der Kinderarzt und Leitende Arzt für Pädiatrische Palliative Care am Ostschweizer Kinderspital Dr. med. Jürg Streuli sammelt mit dem Verein für gemeinnützige Hilfe für Kinder und Familien in der Ukraine medizinische Geräte von Spitälern und Ärztegemeinschaften. Er kann auf die langjährige Erfahrung des im vergangenen Jahr verstorbenen Jesuitenpriesters Pater Robert Hotz zurückgreifen, der in den letzten 30 Jahren gemeinsam mit Streulis Vater ein Hilfswerk aufgebaut hat – kurz nachdem die Sowjetunion aufgelöst worden war und sich die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ereignet hatte. Das Hilfswerk unterstützte und unterstützt Spitäler und Waisenhäuser wie auch Schulen.
Eine Voraussetzung für eine effektive Hilfe sind vertrauenswürdige lokale Netzwerke: «Dank der langjährigen Arbeit von Pater Hotz konnten wir ein sicheres und uns persönlich bekanntes Netzwerk übernehmen und haben durch den konstanten Kontakt auch die Gewissheit, dass unsere Arbeit nachhaltig wirkt», erklärt Streuli. In der Praxis gestaltet sich das folgendermassen: Die Vertrauensleute vor Ort übernehmen die Verantwortung für die Verteilung der Güter, die aus der Schweiz geliefert werden, und stellen sicher, dass diese auf den richtigen Kanälen weiter an 30 bis 40 Spitäler verteilt werden.

Aufbau einer technischen Orthopädie

Ausserdem koordinieren die rund 35 Personen vor Ort, dass das Material richtig verwendet wird und nicht nur dankbar entgegengenommen wird und schlimmstenfalls in einem Keller liegen bleibt. «Wir haben die Gewissheit, dass etwa Betten und Gestelle für ein Lazarett auch wirklich aufgebaut werden», gibt Streuli ein Beispiel. Da er mit Pallivia bereits einen Verein für Kinder mit einer lebensverkürzenden Krankheit in der Schweiz führt, konnte er die bestehende Homepage noch in der Nacht nach Kriegsbeginn mit den nötigen Informationen für die Ukraine ergänzen und innert kürzester Zeit mit Spendengeldern Transporte und Soforthilfen bieten. Eines von vier seiner Projekte ist der Aufbau einer technischen Orthopädie, um Kinder und Erwachsene mit Kriegsverletzungen und Amputationen zu betreuen und in der Gesellschaft wieder einzugliedern. Dazu nutzt er die langjährige Zusammenarbeit mit einem grossen Militärspital. Zum Aufbau einer vollausgerüsteten Werkstatt inklusive Löhnen für drei Jahre im Sinne einer Anschubfinanzierung ist Streuli derzeit bestrebt, Mittel zu beschaffen. Diesbezüglich habe er Kontakt mit der Glückskette aufgenommen.
Nachhaltig Hilfe zu leisten ist keine leichte Aufgabe. Korruption und Bürokratie sind laut Streuli auch im Krieg alltäglich, weshalb die Lieferung von Geräten noch längst nicht abgeschlossen sei. Bei Apparaten brauche es oft eine Zulassung der Behörden, egal wie wichtig sie für die Versorgung sind. Auf die Frage, auf welche Weise sich Ärztinnen und Ärzte aus der Schweiz für die Ukraine einbringen können, antwortet Streuli: «Der einfachste und sicherste Weg ist, in der Praxis oder der Klinik weiterzuarbeiten, Geld zu verdienen und zu spenden.» In der Ukraine hat sein Verein einen Lieferwagen, mit dem regionale Transporte durchgeführt werden. Medikamente werden zum Teil in der benachbarten Türkei zu einem günstigeren Preis als in der Schweiz besorgt.
Aber es kommen mit Streulis Hilfe auch Schweizer Sachspenden in die Ukraine. So wurde bereits im März ein Operationstisch aus einem Schweizer Spital in einer Klinik in Lwiw installiert, auf dem Patientinnen und Patienten behandelt werden können. Seitdem hat er noch weitere Transporte in das Land organisiert.
Dank einer anderen Solidaritätsaktion, die von der Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie ins Leben gerufen wurde, sind in kurzer Zeit zudem über 500 Kilogramm an Geräten gesammelt worden. Es handelte sich zum grössten Teil um externe Fixatoren, die umgehend zur Behandlung von verletzten Soldaten und Zivilpersonen eingesetzt wurden. Dies nach einem Angriff auf ein Militärlager in der Nähe von Lwiw, bei dem 50 Menschen ums Leben gekommen sind und 130 verletzt wurden.

Operationen in der Ukraine

Direkt am Ort des Geschehens greift Prof. Dr. med. Dr. h. c. G. Ulrich Exner ein. Der Facharzt für orthopädische Chirurgie hat sich am 11. November bereits zum fünften Mal seit Beginn des Konflikts nach Lwiw begeben. Er agiert unabhängig, ist aber an Streulis Hilfswerk angekoppelt. «Ich habe Anfang Oktober in einer Klinik, in der wir auch Fachpersonal betreuen, zwei spezielle Hüftoperationen durchgeführt, die dort noch nie gemacht wurden. Diese wären ohne den Operationstisch, der aus der Schweiz gespendet wurde, nicht möglich gewesen.» Eine seiner Aufgaben bei seinem letzten Aufenthalt im November war die Nachbehandlung der beiden jungen Patientinnen. Diese müsse er dringend selber beaufsichtigen, betonte er.
Beim Projekt für die technische Orthopädie ist Exner auch involviert. Wobei seine Spezialgebiete Tumororthopädie und Kinderorthopädie sind. «Bemerkenswert daran ist, dass ich mit Amputation eigentlich nichts zu tun haben will, weil ich zur ersten Generation gehöre, die bei malignen Tumoren Techniken entwickelt hat, sodass nicht amputiert werden muss, sondern unter Extremitätenerhalt der Tumor ebenso aggressiv entfernt wird wie durch eine Amputation.» Amputationen habe er bisher nur durchgeführt, wenn es die spezielle Situation erforderte. Nun sei er plötzlich häufig damit konfrontiert. «Ich habe inzwischen hunderte Menschen mit Amputationen in der Ukraine untersucht und beraten. Die Hilfe für diese steht und fällt auch mit der Frage, wer für deren Behandlung bezahlt», sagt er und ergänzt: «Die Ukraine sagt natürlich, dass sie dafür einsteht, aber das ist noch nicht geklärt. Für eine simplere Beinprothetik kostet allein das Basismaterial rund 6000 Franken.» Inklusive Rehabilitation gingen die Kosten in Milliardenhöhe.
Unabhängig von den Kosten ist es auch generell eine Herausforderung, die Patienten zu versorgen. Deshalb engagiert sich Exner im Bereich der Orthopädietechnik. «Ich habe festgestellt, dass wir in diesem Bereich in der Region, in der ich tätig bin, technisch relativ schlecht aufgestellt sind. Da ich Chirurg bin, möchte ich eine kleine Plattform aufbauen, die uns auch sehr spezielle Eingriffe ermöglicht.» Direkte medizinische Hilfe vor Ort zu leisten, ist zwar nicht einfach. Aber Exner ist dazu in der Lage, weil er bereits seit 20 Jahren regelmässig in der Ukraine Behandlungen durchführt und dort deswegen respektiert wird. «Aber Personen, die noch nie in einem Krisengebiet oder in einem Entwicklungsland waren, kann man nicht einfach irgendwo hinschicken», sagt er. Es sei unabdingbar, dass man persönlichen Kontakt mit vertrauenswürdigen Leuten vor Ort habe. Das sei die Basis für ein erfolgreiches Vorgehen.
Oben: Medizinische Fachkräfte bringen Verletzte aus einem Zug in Lwiw. Unten: Blick in ein altes Regionalspital der ukrainischen Stadt Charkiw.
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Kontakt mit der ukrainischen Botschaft

Einer, der sich von der Schweiz aus engagiert, ist Prof. Dr. med. Raffaele Rosso. Der Geschäftsführer Schweizer Chirurginnen und Chirurgen (SGC) hat kurz nach Ausbruch des Krieges seine Kolleginnen und Kollegen darauf hingewiesen, dass aufgrund zahlreicher verletzter Menschen dringender Bedarf an medizinischen Materialien aller Art bestehe. «Als eine der ersten Aktionen veröffentlichten wir online die Kontaktdaten der ukrainischen Botschaft in Bern, die über Informationen für die Lieferung von medizinischen Hilfsgütern und einer Liste von dringend benötigtem Material verfügten», sagt er. Wie viel geliefert wurde, kann Rosso nicht beziffern, doch sein Antrieb ist unermüdlich, das wird aus dem Gespräch deutlich.
Eine weitere Massnahme bestand darin, eine Gruppe junger ukrainischer Studenten, die mit der ukrainischen Botschaft zusammenarbeitete, mit mehreren Pharmaunternehmen in Kontakt zu bringen, die entweder kostenloses Material zur Verfügung stellten oder es mit einem Rabatt verkauften. Rosso schätzt, dass Material im Wert von rund 250 ​000 Franken gesammelt wurde.

Partnerschaften zwischen Spitälern

Aktiv seit dem Ausbruch des Kriegs ist auch Dr. med. Conrad E. Müller, Präsident der Stiftung Pro UKBB. Er hat eine Taskforce aufgebaut – mit dem Verein Friends of Ukraine und zahlreichen Organisationen wie dem Spitalverband H+, Zürich hilft Ukraine und der Ärztegesellschaft Baselland. Ziel ist es, Partnerschaften zwischen Spitälern der Schweiz und der Ukraine zu vermitteln. Diese beinhalten die Versorgung mit medizinischem Material, die medizinische Weiterbildung, das Besprechen von komplexen medizinischen Fällen und die Unterstützung kriegsverletzter Kinder und deren Familien. «Zusammen mit einem ukrainischen Freund habe ich im März 2022 dem ukrainischen Botschafter in Bern unsere Idee vorgestellt, die sofort auf grosses Interesse stiess und Unterstützung fand», so Müller.
Innert kurzer Zeit sei es gelungen, in der Ukraine das Partnernetzwerk aufzubauen. Marina Mamenko, die Präsidentin der Ukrainischen Pädiatrischen Gesellschaft, hat zusammen mit der Projektleiterin Lita Nguyen die meisten Beziehungen in der Ukraine aufgebaut. Nguyen, eine Ukrainerin mit vietnamesischen Wurzeln ist die Projektverantwortliche in der Schweiz, die von Rotary Schweiz-Liechtenstein bezahlt wird. Mit dem grössten Kinderspital der Ukraine stehen Müller und Nguyen fast täglich in Kontakt.

Schweizerische Epilepsie-Liga

Auch im Bereich der Epilepsie wird aus der Schweiz Hilfe geboten. So steht die Schweizerische Epilepsie-Liga in gutem Kontakt mit der Partnerorganisation, der Ukrainischen Liga gegen Epilepsie, wie Julia Franke, die Geschäftsführerin der Schweizerischen Epilepsie-Liga auf Anfrage mitteilt. Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie habe man einen grossen Transport nach Kiew realisiert. «Wir haben dafür gezielt nach Bedarf ausgewählte Antikonvulsiva besorgen können», führt sie aus.
Dank der Unterstützung und der Kontakte der Schweizerischen Epilepsie-Liga, konnte einigen ukrainischen Epileptologen ermöglicht werden, zum Europäischen Epilepsiekongress nach Genf zu reisen, der im Juli 2022 stattfand. «Wir luden sie zu einem Apéro und zum Abendessen ein, sodass ein lebhafter Austausch entstand. Derzeit arbeiten wir daran, unsere wichtigsten Informationsflyer auf Ukrainisch zu übersetzen, primär für die Flüchtlinge in der Schweiz und anderen Ländern. Es sind besonders viele Kinder mit Epilepsie in die Schweiz gekommen», teilt Julia Franke weiter mit.

«Hand in Hand with Ukraine»

Die europäische Föderation für Handchirurgie (FESSH) hat die Hilfsaktion «Hand in Hand with Ukraine» ins Leben gerufen. Erfahrene Handchirurgen, welche zum Teil Erfahrung bei der Behandlung in Kriegsgebieten haben, vermitteln ihren Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine per Webinaren Ratschläge für die Behandlung schwerer Verletzungen. Dabei handelt es sich teilweise um schlimme Verbrennungen, Schussverletzungen und amputierte Extremitäten, wie in einer Medienmitteilung der FESSH erwähnt wird [1]. Darin wird eindrücklich geschildert, wie die Expertinnen und Experten aus der Schweiz den Krieg via Videocall ansatzweise miterleben: «Während die Fachpersonen in der Ukraine ihren Kollegen in der Ferne schreckliche Verletzungen zeigten, hörten wir im Hintergrund die Einschläge von Granaten. Es ist unglaublich, wie unter lebensgefährlichen Voraussetzungen versucht wird, Menschenleben zu retten.»
Das Zitat stammt von Dr. med. Daniel Herren, Chefarzt Handchirurgie an der Schulthess Klinik in Zürich und Generalsekretär der FESSH. Auf Anfrage teilt er mit, dass die Hilfe weiterläuft. «Wir haben neben den Webinaren, die wir immer noch durchführen, zwei Hilfslieferungen auf die Beine gestellt.» Der eine Transport, der vorwiegend aus Rehabilitationsmaterial wie Schienen bestand, sei bereits in der Ukraine angekommen. Die andere Lieferung mit chirurgischen Instrumenten und Implantaten ist laut Herren auf dem Weg nach Budapest und werde von dort aus an die Grenze gebracht.
Die vielen Beispiele für das Engagement Schweizer Ärztinnen und Ärzte zeigen: Der Krieg geht weiter, die Hilfe aber auch. Und die Solidarität der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz bleibt stark.