Normalität beweisen?

Aktuell
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21330
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):28-31

Affiliations
a Präsident Tarifkommission, Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie, b Mitglied Tarifkommission, Schweizerische Gesellschaft für Kardiologie , c Tarifdelegierter, Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie, d Expertin, Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 21.12.2022

FMH-Tarifmonitoring Das Herz ist für den Menschen physiologisch und soziokulturell ein zentrales Organ. Bei Verdacht auf dessen Fehlfunktion oder Erkrankung ist die Besorgnis bei Betroffenen gross. Kardiologen untersuchten in den vergangenen zwei Jahren überraschend viele junge Erwachsene mit Verdacht auf Herzerkrankungen. Die Anzahl der Patientinnen und Patienten nimmt seit 2021 stark zu.
Die Anzahl der Personen, die eine kardiologische Arztpraxis aufsuchen, nimmt stetig zu. Die jährliche Wachstumsrate liegt seit 2013 im Durchschnitt bei 5% [2]. Gründe für die wachsende Anzahl Patientinnen und Patienten sind unter anderem demographische Entwicklungen, eine spezialisiertere Versorgungsituation (zum Beispiel Erstverschreibungsauflagen durch Spezialisten), ein verändertes Gesundbewusstsein, Erwartungshaltungen sowie die immer höhere Lebenserwartung. Dabei akzentuiert sich seit 2021 ein Trend, der bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist: Es kommen vermehrt jüngere Patientinnen und Patienten in eine kardiologische Praxis.
Vermehrt machen sich jüngere Patientinnen und Patienten Sorgen über kardiologische Probleme.
© Ryan ‘O’ Niel

Unerwartet viele junge Patienten

Im Gegensatz zu anderen Fachrichtungen gab es pandemiebedingt im Jahr 2020 keinen nennenswerten Rückgang der Patientenanzahl. Zwischen 2013 und 2020 betreute eine kardiologische Praxis im Durchschnitt jährlich zirka zehn Patientinnen und Patienten mehr als im Vorjahr. Im Jahr 2021 waren es 65. Davon waren unerwartet viele Patientinnen und Patienten jünger als 34 Jahre. Diese überdurchschnittlich hohe Zuwachsrate konnte mit einer kurzfristigen Erhöhung des Arbeitspensums in verschiedenen Praxen aufgefangen werden.
Im ersten Pandemiejahr wurden viele Kontrolluntersuchungen auf Wunsch der Patientinnen und Patienten nicht beziehungsweise erst nach vollständiger Impfung 2021 durchgeführt. Hinzu kamen dafür 2020 die Behandlungen im Zusammenhang mit einer COVID-19-Erkrankung. Nachdem die Impfung für die breite Bevölkerung verfügbar war, häuften sich 2021 Untersuchungen mit Verdacht auf Impfnebenwirkungen.
Es waren 2021 also mehrere Effekte, die sich in Bezug auf das Patientenwachstum überlagern. Unter anderem sind dies:

Die Normalität bestätigen

Die Angst vor der zwar sehr seltenen Herzmuskelentzündung (Myokarditis) als potenziell schwerer Impfnebenwirkung von verschiedenen Covid-19 mRNA-Impfstoffen oder vor Long-COVID als Folge einer Infektion brachte viele jüngere Menschen zunächst zu ihrem Hausarzt und anschliessend in eine kardiologische Praxis. Verbunden mit der medialen Aufmerksamkeit beider Phänomene und einem generell zunehmenden Gesundheitsbewusstsein, leiden Patientinnen und Patienten sehr unter der Ungewissheit, ob sie zu den 0,00005 Prozent [3] gehören, die eine relevante Impfnebenwirkung erleiden. Die Symptome sind teilweise unspezifisch und müssen bei Verdacht sorgfältig abgeklärt werden. Dazu gehören unter anderem Leistungsintoleranz, Palpitationen, Brustschmerzen oder Müdigkeit. Die Symptome gehen oft mit einer grossen Verunsicherung einher. Nach entsprechender Anamnese bedarf es in der Regel einer Echokardiographie und eines Belastungstests, welche die Herzfunktion bildlich fassbar machen. Sind die Werte medizinisch im normalen Bereich, fasst die Patientin oder der Patient wieder Vertrauen in sich und den eigenen Körper. Die Krankheit wird ausgeschlossen und seine «Normalität» kann bestätigt werden. Das Bedürfnis nach «Normalität» und «Bestätigung von Funktionalität» ist ein menschliches Verhaltensmuster, welches sich nicht nur im Rahmen einer Pandemie akzentuiert, sondern wahrscheinlich auch in generell unsicheren Zeiten (Klimawandel, Krieg, Energiekrise, Inflation, Teuerung, und so weiter) zu erwarten ist.

FMH-Tarifmonitoring

Die ärzteeigene Datensammlung (aggregierte Daten aus kantonalen Trustcentern) verfügt über Abrechnungsdaten der gesamten Schweiz für praxisambulante Leistungen seit 2004. Der Abdeckungsgrad ist regional unterschiedlich und liegt im Mittel bei 60%. Für den Bereich Kardiologie ist die Abdeckung in den Kantonen beider Basel und Freiburg mit 83% am höchsten, gefolgt von St. Gallen (72%), Zürich und Bern (60%) und dem Tessin (55%). Die Auswertung der Daten sowie mögliche Interpretationen für den vorliegenden Artikel wurden von der FMH gemeinsam mit den Tarifdelegierten der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie vorgenommen.
Die FMH erhält alle Daten aggregiert und vollständig anonymisiert: Daten zu einer einzelnen Arztpraxis oder einer Patientin beziehungsweise einem Patienten können zu keinem Zeitpunkt eingesehen werden und unterstehen dem NAKO-Kodex [1]. Die berechneten Kennzahlen basieren auf Abrechnungsdaten des Arzttarifes TARMED und beziehen sich in der Regel auf den Durchschnitt der kardiologischen Arztpraxen der gesamten Schweiz. Sofern nicht explizit erwähnt, sind die Kennzahlen nicht hochgerechnet.
Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl Patienten in einer Arztpraxis (Durchschnittsberechnung), KVG, CH, Kardiologie, KVG, CH, Monate 01-07, Jahre 2018-2022, Ärzteeigene Datensammlung (Trustcenter)
© FMH
Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl Patienten in der freien Praxis, Kardiologie, KVG, CH, Monate 01-12, Jahre 2013-2022, Ärzteeigene Datensammlung (Trustcenter), hochgerechnet auf Basis der FMH-Ärztestatistik, indexiert 2013
© FMH

Stabilisierung auf hohem Niveau

Aktuell scheint sich die Anzahl Patientinnen und Patienten 2022 auf einem hohen Niveau zu stabilisieren. Die Zuwachsrate entspricht den Jahren vor der Pandemie. Allerdings wurde die Zunahme an Patientinnen und Patienten 2021 aktuell ohne Zunahme der Anzahl Leistungserbringer bewältigt, erstere wurde folglich mit Mehrarbeit kompensiert. Dieser Umstand muss in einer nachhaltigen Versorgungsplanung berücksichtigt werden.

Stabile Kosten pro Patient

Da es bei einer höherer Patientenanzahl keine Skaleneffekte (sinkende Kosten bei höherer Menge) gibt, verursacht jede Patientin beziehungsweise jeder Patient, ob er mit oder ohne Krankheitsdiagnose die Praxis verlässt, Kosten. Je mehr Patientinnen und Patienten es gibt, desto höher sind die Kosten insgesamt. Die TARMED-Kosten pro Patient und Jahr sind in der praxisambulanten Kardiologie konstant. Werden die Tarifeingriffe des Bundesrates von 2014 und 2018 berücksichtigt, ist ein Kostenwachstum von 1% pro Patient seit 2013 festzustellen, was etwa CHF 9.60 in 10 Jahren entspricht.

Die Anzahl der kardiologischen Patientinnen und Patienten wächst

Gründe für die wachsende Anzahl Patientinnen und Patienten sind unter anderem demographische Entwicklungen, eine spezialisiertere Versorgungsituation, ein verändertes Gesundheitsbewusstsein, Erwartungshaltungen und die immer höhere Lebenserwartung.

Veränderte Diagnostik

In der Diagnostik der koronaren Herzkrankheit zeigen bildgebende Modalitäten (zum Beispiel Stressechokardiographie) eine höhere Spezifität und Sensitivität als das traditionelle Belastungs-EKG (Ergometrie). Entsprechend sind die Indikationen zum Belastungs-EKG in aktuellen internationalen kardiologischen Richtlinien in den vergangenen Jahren angepasst worden.
Diese veränderte Diagnostik wird ebenfalls in den abgerechneten Leistungen deutlich: Erhielten 2017 noch 42% der Patientinnen und Patienten einer kardiologischen Praxis eine Ergometrie, sind es 2021 noch 39%. Entsprechend ist die Anzahl der Stressechokardiographien von 3 auf 5% der Patientinnen und Patienten angestiegen. Es wird also eine Untersuchung durch eine bessere Untersuchung mit höherer Spezifität ersetzt und nicht zusätzlich erbracht. Der Zeitaufwand für die Untersuchung mittels Stressecho entspricht in etwa dem Zweifachen der Ergometrie und die benötigte Infrastruktur ist aufwendig. Dementsprechend nehmen die Kosten für diese ambulanten kardiologischen Untersuchungen zwar leicht zu, tragen aber unter Umständen dazu bei, Spitalaufenthalte und damit auch vergleichbare belastendere, invasive und teurere Behandlungen zu reduzieren.
Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl Patienten nach Altersgruppe, Kardiologie, KVG, CH, KVG, CH, Monate 01-12, Jahre 2017-2021, Ärzteeigene Datensammlung (Trustcenter)
© FMH
Abbildung 4: TARMED-Kosten pro Patient, Kardiologie, KVG, CH, Monate 01-07, 2013-2022, Ärzteeigene Datensammlung (Trustcenter). Die TARMED-Kosten pro Patient zeigen insgesamt ein konstantes Bild. Die Wirkung des bundesrätlichen Tarifeingriffes zeigt sich ab 2018 deutlich.
© FMH

Zusammenfassung und Trend

2021 ist es zu einer überdurchschnittlichen Zunahme von kardiologischen Patientinnen und Patienten gekommen, die ohne zusätzliche Leistungserbringer und bei stabilen Kosten pro Patient behandelt wurden. Ob dieser Umstand kurzfristig nur pandemiebedingt erklärbar ist, (COVID-spezifische kardiologische Krankheitsmanifestationen, Angst vor Impfnebenwirkungen) oder sich hier ein Trend in der spezialärztlichen Versorgung abzeichnet (Kontrollbedarf, Gesundheitsbewusstsein, Demographie, Zuweisungspraxis, Verunsicherung und so weiter), wird die Zukunft zeigen.

Mehr Kinder und junge Erwachsene

Die Pandemie akzentuiert einen Trend, der bereits seit einigen Jahren erkennbar ist: Überraschend viele junge Erwachsene suchen eine kardiologische Praxis auf. Entsprach das Patientenwachstum bisher in etwa dem Patientenalter (je älter, je höher die Wachstumsrate), ist seit 2018 eine Veränderung zu beobachten: die Wachstumsrate der Patientinnen und Patienten zwischen 15 und 44 Jahren liegt über jener der 45-bis 54-Jährigen sowie der 65- bis 74-Jährigen.
Altersgruppen 0-14 Jahre
Für die Altersgruppen der Kinder zwischen 0-14 Jahre ist die Abdeckung praxisambulant ungenügend, da die spezialisierte Kindermedizin im Gegensatz zur Erwachsenenmedizin vorwiegend in den Spitälern erbracht wird. Grundsätzlich zeigen sich aber ähnliche Tendenzen. Vertreter der Kinderkardiologie aus Spital und Praxis berichten zum Beispiel von einer Zunahme an Patienten zum Ausschluss einer Herzerkrankung nach COVID-19-Infektion mit den Symptomen Leistungsminderung/Belastungsdyspnoe oder mit Palpitationen/Thoraxschmerzen. Ausser in den sehr seltenen Fällen eines PIMS-TS (Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrome Temporally related to SARS-CoV-2), das mit schweren Allgemeinsymptomen und einer kardialen Beteiligung einhergehen kann, finden sich bei diesen Kindern und Jugendlichen meist kardiale Normalbefunde und eine passagere Symptomatik.
2 Basierend auf der Entwicklung der Anzahl Patienten 2013-2022 der Ärzteeigene Datensammlung, hochgerechnet auf die gesamte Schweiz mittels der FMH-Ärztestatistik.