Die medizinische Versorgung wird immer besser – wenn wir sie lassen

Leitartikel
Ausgabe
2022/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21345
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(5152):26-27

Publiziert am 21.12.2022

Jahresrückblick Im Eiltempo geht es einmal mehr auf das Jahresende zu. Die Altjahrswoche – die Zeit zwischen den Jahren – wird traditionell für persönliche Standortbestimmungen genutzt und bietet sich an für einen Rück- und Ausblick. Nach mehr als 25 Jahren Berufserfahrung im Gesundheitswesen erlaube ich mir, den zeitlichen Bogen etwas weiter zu spannen.
Ein besonderes Erlebnis in diesem Jahr zeigte mir eindrücklich, wie wertvoll Rückblicke für eine zukunftsorientierte Perspektive sein können. Im Rahmen des Mitarbeitenden-Anlasses des FMH-Generalsekretariats besuchten wir die Medizinsammlung im Inselspital. Die dort ausgestellten Objekte führen sehr deutlich vor Augen, welch grosse Entwicklung die Medizin bereits durchlaufen hat und welchen Nutzen sie allen Menschen bringt, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind. Wer die alten Operationstische, Beatmungsgeräte, eisernen Lungen und Brutkästen betrachtet, kann sehr gut nachvollziehen, wie viel beschwerlicher und riskanter die damaligen Behandlungen für Patientinnen und Patienten gewesen sein müssen und ist froh darum, im Heute leben zu dürfen.
Stefan Kaufmann
Generalsekretär der FMH

Ein Fortschritt jagt den nächsten

Interessant ist es ebenfalls zu erfahren, dass die Sammlung der medizinhistorischen Objekte heutzutage anspruchsvoller wird. Immer schneller jagt ein Fortschritt den nächsten, so dass es schwieriger wird zu entscheiden, welche der vielen einander ablösenden Objekte in die Sammlung aufgenommen werden sollen. Die rasche Entwicklung lässt sich gut an der Geschichte des Herzschrittmachers veranschaulichen: Der erste vollständig implantierte Herzschrittmacher wurde im Jahr 1958 dem 43-jährigen Ingenieur Arne H. W. Larsson in Stockholm eingesetzt. Im Jahr 2019 erhielten 7490 in der Regel über 60-jährige Patientinnen und Patienten in 74 Schweizer Spitälern Herzschrittmacher aus einer breiten Produktepalette erstimplantiert oder ausgewechselt [1]. Im Gegensatz zu Arne H.W. Larsson, der bis zu seinem Tod im Alter von 86 Jahren noch 26 weitere Herzschrittmacher benötigte, profitieren die Behandelten heute von langlebigeren, kleineren und einfacher einsetzbaren Schrittmachern. Die beschleunigte Entwicklung betrifft aber nicht ausschliesslich die Medizintechnik und manifestiert sich nicht nur in archivierbaren Gegenständen. Vor allem vergrössert sich das Wissen – und hier gerade das medizinische Wissen – enorm und mit zunehmendem Tempo. Während das Wissen der Menschheit im Jahr 1950 noch 50 Jahre benötigte, um sich zu verdoppeln, lag diese Zeitspanne im Jahr 1980 nur noch bei sieben Jahren, 2010 bei knapp vier Jahren und wird heute auf etwa 70 Tage geschätzt [2].
Operationstisch «Model X», Schaerer AG, 1912.
© Medizinsammlung Inselspital Bern

Mehr Wissen – mehr Spezialisierung

Wo Wissen so schnell wächst, können sich selbst sehr gut ausgebildete und sich beständig weiterbildende Menschen nur einen Ausschnitt dieses Wissens gut genug aneignen, um es für die Behandlung von Patientinnen und Patienten nutzen zu können. Die Folge ist eine zunehmende Spezialisierung der Medizin, wie wir sie in allen entwickelten Ländern beobachten können. Damit wird die Chance für Patientinnen und Patienten immer grösser, dass ihre Erkrankung gut erkannt und behandelt werden kann. Die zunehmende Spezialisierung geht aber auch mit neuen Herausforderungen für die Zusammenarbeit der Gesundheitsfachpersonen einher und erhöht den Anspruch an die Arbeit der Grundversorger. Diese können nach wie vor den grössten Teil der Gesundheitsprobleme abschliessend behandeln – nun sind sie jedoch zusätzlich damit konfrontiert, bei immer komplexeren Behandlungen alle Fäden zusammenzuhalten.

Viele Möglichkeiten – breite Wirkung

Wo mehr Gesundheitsprobleme behandelt werden können, die zuvor unbehandelt bleiben mussten, werden mehr Behandlungen durchgeführt. Auch wenn durch verbesserte Behandlungsmethoden neu Menschen behandelt werden können, für die es zuvor zu riskant gewesen wäre, steigt die Anzahl von Behandlungen. Was politisch oftmals als «Mengenausweitung» gebrandmarkt wird, ist damit nicht zwangsläufig immer ein Problem – sondern auch ein Teil des Fortschritts, den wir erleben, wie das Beispiel mit dem Herzschrittmacher exemplarisch zeigt.

Mehr Lebensjahre, mehr Lebensqualität

Der Blick zurück kann uns helfen zu realisieren, wie beschränkt oft die Perspektive ist, die wir einnehmen. Wenn wir zurückblicken, sehen wir eine beeindruckende Geschichte von Fortschritten, die einen grossen Nutzen für uns alle gebracht hat und die sich weiter fortsetzt. Wir können heute viel mehr Gesundheitsproblemen vorbeugen und viel mehr Krankheiten behandeln, dies auch bei mehr Menschen als es früher der Fall war. Einen kleinen Teil dieser Fortschritte bildet eine Grafik des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan ab, in der die Entwicklung der vorzeitig verlorenen Lebensjahre aufgezeigt wird [3]. Über den QR-Code am Ende des Textes können Sie die Grafik online aufrufen. Mit «vorzeitig verlorenen Lebensjahren» sind die Jahre gemeint, die Menschen noch vor ihrem 75. Geburtstag sterben. Im Jahr 1998 gingen pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner noch über 5000 Lebensjahre durch solche frühen Todesfälle verloren, im Jahr 2020 waren es bereits über 2000 Jahre weniger.
Andere Fortschritte – wie die deutlich erhöhte Lebensqualität – wird kaum je eine Grafik abbilden können. Die Lebensqualität, die wir dadurch gewinnen, dass Gesundheitsprobleme heute behandelt oder besser behandelt werden können, ist aber ein zentraler Mehrwert unserer medizinischen Versorgung. Auch der hohe ökonomische Wert dieser Fortschritte lässt sich kaum berechnen, denn bessere Gesundheit erhält die Arbeitsfähigkeit, fördert die Produktivität, spart Invaliden- und Hinterbliebenenrenten und ermöglicht es allgemein Menschen, sich mit ihren Fähigkeiten im gesellschaftlichen Leben einzubringen.

Das grosse Ganze im Blick behalten …

All dies ging leider im letzten Jahr in der gesundheitspolitischen Diskussion meist verloren, die uns beständig vor allem berichtete, was unser Gesundheitswesen kostet. Natürlich gilt es, die Kostenentwicklung – ebenfalls in der Grafik abgebildet – im Auge zu behalten, denn auch die beste Versorgung nützt nichts, wenn sie keiner bezahlen kann. Diese Gefahr ist aktuell aber nicht gegeben und wer Entwicklungen ausschliesslich mit dem «Kostenröhrenblick» analysiert, blendet Aspekte aus, mit denen sich ein völlig anderes Gesamtbild ergäbe.
Der Politik kommt das Verdienst zu, dass sie mit dem KVG die allgemeine Zugänglichkeit zu unserer hochstehenden Gesundheitsversorgung für die Schweizer Bevölkerung ermöglicht hat und dass sie mit Mechanismen wie der Prämienverbilligung eine soziale Lastenverteilung sicherstellt. Mit der Schaffung von Rahmenbedingungen für einen gut regulierten Wettbewerb ermöglicht sie erst eine gute Gesundheitsversorgung, weil dies sowohl Kostendämpfung als auch Qualität zugutekommt. Wo die staatlichen Regulierungen des Gesundheitswesens aber deutlich weitergehen und – wie im letzten Jahr gesehen – die Zusammenarbeit der Gesundheitsfachpersonen oder die Tarifverträge bis ins Detail vorschreiben möchten, werden Fortschritt und Innovation zwangsläufig ausgebremst.

… und der Innovation Raum lassen

Was lernen wir also aus dem Rückblick? Unsere medizinische Versorgung ist eine grosse Erfolgsgeschichte, die immer schneller immer mehr für die Versicherten, Patienten und unsere Gesellschaft erreicht, bremsen wir sie nicht aus – sondern schaffen wir Rahmenbedingungen, in denen sie sich optimal entwickeln kann und die den Gesundheitspartnern genügend Spielraum für Innovation und zeitgemässe Formen der Zusammenarbeit bietet.
1 Stiftung für Herzschrittmacher und Elektrophysiologie. Schweizerische Statistik für Herzschrittmacher 2019. http://www.rhythmologie-stiftung.ch/statistiken/stat_2019_pm_de.pdf
3 Obsan. Verlorene potenzielle Lebensjahre (YPLL). ind.obsan.admin.ch/indicator/obsan/verlorene-potenzielle-lebensjahre