Interdisziplinäre Notfallzentren schneiden besser ab

Organisationen
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21084
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):32-35

Affiliations
a Dr., Partner büro H AG; b Prof. Dr. med., Medizinischer Direktor, Stadtspital Zürich; c Dr. med., Chefarzt, Institut für Notfallmedizin, Stadtspital Zürich; d Dr. med., Chefarzt, Institut für Notfallmedizin, Stadtspital Zürich; e Dr. med., Chefarzt, Interdisziplinäre Notfallstation, Claraspital Basel; f Dr. med., Direktor und Chefarzt Department Interdisziplinäres Notfallzentrum, Kantonsspital Baden; g Prof. Dr. med., Chefarzt, Interdisziplinäres Notfallzentrum, Luzern; h Dr. med., em. Chefarzt, Zentrale Notfallaufnahme, Kantonsspital St. Gallen; i Dr. med., Oberarzt, Notfallzentrum, Universitätsspital Basel; j Prof. Dr. med., Chefarzt, Leiter Notfallzentrum, Kantonsspital Winterthur; k Dr. med., Leitender Arzt, Notfallabteilung, Spital Bülach; l Dr. med., Chefarzt, Leiter Interdisziplinäres Notfallzentrum, Spital Langenthal; m Prof. Dr. med., Universitäres Notfallzentrum, Inselspital Bern

Publiziert am 22.02.2023

Best Practice Interdisziplinarität führt zu mehr Effizienz. Das zeigt eine Benchmarking-Studie über sechs Notfallzentren in der Deutschschweiz, die entweder mit getrennten chirurgischen und medizinischen Teams arbeiten oder interdisziplinäre Organisationsformen bevorzugen.
Notfallzentren der Deutschschweiz mit ihren konstant steigenden Patientenzahlen konkurrieren um ärztliche und pflegerische Ressourcen, und optimieren diese kontinuierlich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen auf Grundlage individueller Voraussetzungen. Einige Spitäler trennen im Behandlungsteam prozessual klar in chirurgische und medizinische Notfallpatientinnen und -patienten, andere Notfallzentren arbeiten teilweise oder vollständig interdisziplinär.
Diese unterschiedlichen Herangehensweisen spiegeln sich auch organisatorisch: Ein Spital führt seine Notfallstation mit getrennten chirurgischen und medizinischen Teams, das andere bevorzugt anteilige oder vollständige interdisziplinäre Organisationsformen. Zusätzlich zum Grad der Interdisziplinarität unterscheiden sich die Notfallzentren auch in ihrer Ausprägung von Interprofessionalität (Aufgabenverteilung und Zusammenarbeit zwischen ärztlichem und pflegerischem Dienst) und dem Behandlungsort ihrer Notfälle: Notfallstation oder spitalinterner Notfallpraxis.
Interdisziplinarität sorgt für ein gut funktionierendes Behandlungssystem in der Notfallmedizin.
© Benmm / Dreamstime

Ressourcen schonen

Sechs Notfallzentren der Deutschschweiz wurden einem Benchmarking unterzogen. Im Zentrum der Analyse stand die Frage, ob sich aus den unterschiedlichen Organisationsformen Hinweise auf einen personal- und ressourcenschonenden Betrieb ableiten lassen. Die ausgewählten Notfallzentren verfügen über eine spitalinterne Notfallpraxis und nehmen jährlich 35 000 bis 55 000 Notfallpatientinnen und -patienten auf (Zahlenbasis jeweils 2019 sowie 2021). Die von der COVID-19-Pandemie stark beeinflussten Notfallzahlen 2020 wurden bewusst nicht miteinbezogen. Die Vergleichsstudie basierte auf:
Tabelle 1: Ausgewählte Notfallzentren inklusive Notfallzahlen und Personalressourcenwirksamkeit (ÄD = Ärztedienst, PD = Pflegedienst).

Interdisziplinarität macht den Unterschied

In allen untersuchten Notfallzentren ist die Verteilung von chirurgischen und medizinischen Notfällen nahezu gleich verteilt, nämlich 50/50. Ebenso ist die zeitliche Verteilung von Patientinnen und -patienten pro Wochentag und Tageszeitpunkt (tatsächliche Patientenanwesenheit pro Stunde) in jedem Notfallzentrum vergleichbar. Nur die effektive Anzahl an gleichzeitig anwesenden Personen (Nachmittags- und Abendstunden) unterscheidet sich je nach Zentrum beziehungsweise dessen Organisationsform und Anteil Patientinnen und Patienten in der Notfallpraxis.
Abbildung 1 zeigt die Anwesenheit von Notfallpatientinnen und -patienten pro Wochentag und Stunde in einem Notfallzentrum mit rund 40 000 Notfällen pro Jahr, jeweils für Notfallstation und Notfallpraxis: Idealerweise werden in solch einem Notfallzentrum durchschnittlich 110 Notfälle pro Tag und damit maximal 28 Patientinnen und Patienten zum selben Zeitpunkt behandelt, davon gleichzeitig 18 (60%) auf der Notfallstation und 10 (40%) in der Notfallpraxis. In der Gesamtschau aller analysierten Notfallzentren gilt: Je mehr Patientinnen und Patienten in der Notfallpraxis behandelt werden und je interdisziplinärer die ärztlichen Dienstpläne gestaltet sind, desto kürzer ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer. Damit müssen weniger Personen zum gleichen Zeitpunkt betreut werden.
Abbildung 1: Beispiel einer typischen Verteilung von 40 000 Notfällen pro Jahr je Wochentag (∅ 110 Notfälle) und Stunde in Notfallzentrum / Notfallstation / Notfallpraxis.
Die Anzahl eingesetzter kader- und assistenzärztlicher, pflegerischer sowie pflegeunterstützender Dienste ist überraschend wenig von der durchschnittlichen Anzahl gleichzeitig anwesender Notfallpatientinnen und -patienten abhängig, sondern korreliert vielmehr mit der Organisationsform und dem Anteil Patientinnen und Patienten in der Notfallpraxis (Abbildung 2). Das heisst konkret: Je mehr Personen in der Notfallpraxis behandelt, je interdisziplinärer der ärztliche Dienst aufgestellt und je kongruenter die pflegerischen Dienstpläne mit den ärztlichen Diensten abgestimmt sind, desto weniger Notfallpersonal muss für die Patientenbehandlung aufgewendet werden.
Abbildung 2: Beispiel einer Dienstbesetzung (Kader- und Assistenzärztinnen und -ärzte, Notfallpflege) im Tagesverlauf in Notfallstation und Notfallpraxis.
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass in Notfallzentren, in denen anteilsmässig ein hoher Prozentsatz an Patientinnen und Patienten in der Notfallpraxis behandelt werden und eine interdisziplinäre Führung etabliert ist, die Ratio aus Notfallpatientinnen und -patienten pro Jahr und produktiv eingesetztem Personal besonders günstig ist (Tabelle 1). Insbesondere der Einsatz weniger, aber umso erfahrener kaderärztlicher und/oder hausärztlicher Fachkräfte in der Notfallpraxis, der ressourcensparende Einsatz interdisziplinärer Ärzteteams sowie die auf Notfallpatientenanwesenheit klar ausgerichteten pflegerischen Dienstpläne erscheinen besonders wirksam.

An der Best Practice orientieren

Wichtig bei der Interpretation des Benchmarkings ist, dass es keineswegs darum geht, eine andere Organisationsform einfach zu imitieren. Viel wichtiger ist es, die jeweiligen Prozesse innerhalb des Spitals und des eigenen Notfallzentrums zu verstehen und dann zu prüfen, ob sie für das eigene Spital sinnvoll sein können und wenn ja, wie sie sich dort implementieren lassen. Ein Beispiel ist die am Patientenaufkommen orientierte Ausstattung mit einer ausreichenden Anzahl von zur selben Zeit anwesenden Ärzten und Ärztinnen sowie Fachpflegekräften. Hier ist die Bandbreite in den untersuchten Zentren gross und bleibt auch im Hinblick auf arbeitnehmerfreundliche Dienstzeiten eine individuelle Entscheidung des Notfallmanagements.

Personalressourcenwirksamkeit

Die vorliegenden Ergebnisse legen vor allem nahe, dass interdisziplinäre Notfallzentren mit grossen Notfallpraxen und interprofessionell aufgestellten Teams besonders personalressourcenwirksam betrieben werden können. Wird die Personalressourcenwirksamkeit innerhalb der Notfallzentren getrennt nach Notfallstation und Notfallpraxis analysiert (Daten hier nicht gezeigt), dann bleibt der Vorteil für interdisziplinär organisierte Notfallstationen weiterhin bestehen. Das heisst, interdisziplinäre Teams und optimierte Prozesse für Notfallstation und Notfallpraxis sind weniger personalintensiv und behandeln zügiger.
Eine geringere zeitliche Verzögerung im Rahmen der interdisziplinären Notfallbehandlung kann zu einer signifikanten Verkürzung der gesamten Behandlungsdauer beitragen. Selbstverständlich bleiben neben dem interdisziplinären Notfallärzteteam das spitalinterne multidisziplinäre Team aus Anästhesiologie, Chirurgie, Innerer Medizin, Neurologie, Gynäkologie, Radiologie, Pädiatrie etc. gemäss Versorgungsauftrag beteiligt.

Die Westschweiz als Vorbild

Auch wenn sich direkte Vergleiche mit Notfallzentren anderer westlicher Staaten aufgrund verschiedenster Gesundheitssysteme (insbesondere den stark unterschiedlich ausgeprägten Hausarztversorgungsmodellen) verbieten, ist eine interdisziplinäre Ausrichtung ausserhalb des deutschsprachigen Raums bemerkenswert fortgeschritten. So sind auch in der Westschweiz interdisziplinär aufgestellte Notfallzentren vorherrschend. Verantwortlich hierfür dürften nicht nur die jeweilige Tradition, sondern auch steigende Kosten und Effizienzbestrebungen sein, hoch qualifizierte Notfallärztinnen und Notfallpflegende wirksam einzusetzen und an das eigene Spital zu binden.
Auch bleibt die aktuell fehlende Facharztausbildung für Notfallmedizin – ganz im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum oder Frankreich – ein standespolitisches Streitthema. Die gezielte interdisziplinäre Assistentenausbildung ist für viele attraktiv, aber auch unabdingbar, um qualifizierte Notfallärztinnen und -ärzte für den wachsenden Bedarf zur Verfügung zu haben. In konsequent interdisziplinär geführten Notfallstationen stehen weniger Interessenkonflikte zwischen Medizin und Chirurgie, sondern die effiziente Notfallbehandlung mit Blick auf die Interessen der Patientinnen und Patienten und des Gesamtspitals sowie transparente Prozesse im Vordergrund. Die Verteilung von medizinischen und chirurgischen Notfällen ist in den analysierten Spitälern ohnehin ausgewogen: Die Voraussetzungen, sich an der Best Practice vorliegender Analyse zu orientieren und interdisziplinäre Ärzteteams, eine interprofessionelle (Dienstplan-)Abstimmung sowie Notfallpraxiskapazitäten zu nutzen, sind fast überall gegeben.