Die Macht der Emotionen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21118
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):82

Publiziert am 01.02.2023

Emotionen sind in der medizinischen Praxis allgegenwärtig. Man denke an die immer häufiger werdenden Angst- und Panikstörungen, an Schamgefühle bei adipösen Personen und Suchtkranken, an die Verzweiflung bei anhaltenden Schmerzen aller Art und natürlich an die Mutter aller Emotionen, die Angst vor dem Tod.
Auch das kennen Ärzte und Ärztinnen bestens: Gegen Emotionen und Gefühle ist kein Kraut gewachsen. Besteht eine Abneigung gegen ein Medikament, bleibt es, ungeachtet der wohlmeinenden Informationen der Ärztin oder des Arztes ungenutzt in der Schublade liegen und gegen Angst vor Impfungen nützen die besten Argumente nichts.
Ein möglicher Grund für die enorme Wirkkraft von Emotionen hat ein ganz Grosser der ärztlichen Gilde, Empedokles von Agrigent, geliefert. Er war – vielleicht als Folge seiner Praxiserfahrung – schon 500 Jahre vor Christus von der zentralen Bedeutung von Emotionen überzeugt; dies nicht nur im menschlichen Leben, sondern darüber hinaus in allen Lebewesen und sogar im Kosmos als ganzer. Empedokles schreibt dazu: «Bald vereinigt sich alles zu Einem durch die Liebe, bald trennen sich wieder die einzelnen Stoffe im Hass des Streites.» Für Empedokles sind Emotionen – Hass und Liebe sowie Abstossung und Anziehung – nicht auf Menschen beschränkt, sondern stammen aus kosmischen Quellen und schöpfen von dort ihre Wirkungsmacht.
Piet van Spijk
Dr. med., Dr. phil., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Präsident Forum Medizin und Philosophie
Diese Hinweise sollen genügen, um Emotionen ins Zentrum unseres ärztlichen Interesses zu rücken. Ausserdem: Die Medizin bietet sich als Basis einer Wissenschaft und Kultur der Emotionen aus verschiedenen Gründen an. Es besteht die realistische Hoffnung, dass dadurch therapeutische Erfolge erreicht werden können. In Teilgebieten der Medizin, insbesondere im Bereich der Psychiatrie und der Psychotherapie, ist zum Thema der Emotionen schon einiges an Arbeit geleistet worden. Darauf gilt es aufzubauen. Die medizinische Forschung, will sie dem individuellen Leiden der Menschen gerecht werden, ist heute dringend aufgefordert, ihre Forschungsmethoden dem Untersuchungsgegenstand – dem leidenden Individuum – anzupassen und zu erweitern. Dasselbe gilt bei der Erforschung von Emotionen; sie lassen sich mit der ausschliesslich objektivierenden Herangehensweise der heutigen Medizin nur unzureichend erfassen. Neue Forschungsmethoden sind nötig.
Für eine bessere Kultur und einen grösseren Einbezug der Gefühle in die medizinische Praxis sind die folgenden Schritte angezeigt:
1. Die Wissenschaft der Emotionen wird im Medizinstudium und in der ärztlichen Weiter- und Fortbildung als ein zentrales Thema in den Lernkatalog integriert.
2. Selbstreflexion und Selbstbefragung in Sachen Gefühle und Emotionen (Teilnahme an Balintgruppen und Ähnliches) bilden vom Studium bis ans Ende der ärztlichen Berufstätigkeit einen festen Bestandteil medizinischer Qualitätssicherung.
3. Zusatzausbildungen zwecks verbesserter Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit Emotionen (zum Beispiel Angebote der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin) werden gefördert.
4. Fortbildungsveranstaltungen und Kongresse bemühen sich vermehrt, das Thema «Emotionen» fix in ihr Programm aufzunehmen.
5. Medizinische Zeitschriften (zum Beispiel das Format der Schweizerischen Ärztezeitung und des Swiss Medical Forum) bieten dem Thema der Emotionen ein festes Heimatrecht.