Hilfsbereite Spitäler

Organisationen
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21172
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):25-27

Affiliations
Stellvertretende Geschäftsführerin und Projektleiterin Selbsthilfe Schweiz

Publiziert am 15.02.2023

UnterstützungAls «Selbsthilfefreundliches Spital» werden Spitäler ausgezeichnet, die aktiv mit Selbsthilfegruppen zusammenarbeiten. Eine Win-Win-Situation, denn die Gruppen fördern die Gesundheitskompetenz der Betroffenen, was wiederum dem Spital zugute kommt. Wie funktioniert’s?
An unseren Treffen können sich Betroffene untereinander austauschen oder einfach nur zuhören. Es können wertvolle Begegnungen und Freundschaften entstehen. Wir arbeiten für mehr Sichtbarkeit und Enttabuisierung», sagt Barbara Kundert von der Brustkrebs- Selbsthilfeorganisation TAVOLA ROSA BASEL [1].
Rund drei Viertel der Selbsthilfegruppen in der Schweiz tauschen sich über ein Thema im Bereich der somatischen oder psychischen Gesundheit aus [2]. Neben Gruppen für direkt Betroffene spielen auch Gruppen für Angehörige eine wichtige Rolle. Und auch für das Gesundheitswesen hat das persönliche Erleben von Austausch und Gemeinschaft in der Selbsthilfegruppe mehrere positive Effekte.

Gesundheitskompetenz wird gestärkt

Die Teilnehmenden vermitteln sich gegenseitig Zugang zu Informationen über ihre Erkrankung und deren Behandlung sowie über die Bewältigung der Herausforderungen, die im Alltag durch diese entstehen. Selbsthilfegruppen fangen viele soziale und psychische Probleme auf, die nicht im Rahmen der ärztlichen oder pflegerischen Versorgung bearbeitet werden können. Auch das soziale Umfeld der Erkrankten wird entlastet. Umgekehrt erleben sich die Teilnehmenden aber auch selbst in einer neuen, kompetenten Rolle, wenn sie andere Betroffene unterstützen können.
Diese gestärkte Selbstwirksamkeitserfahrung trägt zur Förderung der Resilienz bei. Studien weisen darauf hin, dass Teilnehmende an Selbsthilfegruppen medizinische Angebote gezielter nutzen und besser mit den Anweisungen des medizinischen Personals kooperieren [3]. Dies verringert den Bedarf an Konsultationen, erneuten Hospitalisationen und Medikation. Gemeinschaftliche Selbsthilfe ist daher ein Element der Selbstmanagementförderung [4] und leistet einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung.
Diese Erkenntnis ist zunehmend auch in der Ärzteschaft verbreitet. So sagt beispielsweise Prof. Thomas Kündig, Klinikdirektor der Dermatologie am Universitätsspital Zürich: «Selbsthilfegruppen und -organisationen leisten in der Schweiz eine wichtige Arbeit; wir unterstützen diese Gruppen gerne dabei und sind froh, die Zusammenarbeit weiter intensivieren zu können. Nach unseren Erfahrungen können nämlich gut informierte und vernetzte Patientinnen und Patienten die Behandlungserfolge oft positiv beeinflussen.» [5]

Als Spital mitmachen

Derzeit sind 31 Spitäler aus 11 Kantonen und zwei Sprachregionen «selbsthilfefreundlich» beziehungsweise auf dem Weg zur Auszeichnung. Bis Ende 2024 sollen noch 50 dazu kommen.
Einen sehr guten Einblick in die «Selbsthilfefreundlichen Spitäler» mit vielen Fallbeispielen und allen wichtigen Unterlagen bietet die Projektwebsite www.selbsthilfefreundlichkeit.ch.
Auskunft zu diesem Projekt erteilt die Projektleitung bei Selbsthilfe Schweiz. Kontakt: selbsthilfefreundlichkeit[at]selbsthilfeschweiz.ch.

Selbsthilfe aktiv fördern

Selbsthilfeförderung direkt in den Gesundheitsinstitutionen, nahe an den Betroffenen und Angehörigen, ermöglicht einen niederschwelligen Zugang zu Selbsthilfegruppen und damit die maximale Entfaltung von deren Wirkung. Darum hat die Stiftung Selbsthilfe Schweiz das Modell der «Selbsthilfefreundlichen Spitäler» aus Deutschland und Österreich übernommen [6] und im Rahmen einer Pilotphase für die Schweiz angepasst. Von 2021 bis 2024 wird es im Rahmen des Programms «Prävention in der Gesundheitsversorgung» [7] von Gesundheitsförderung Schweiz in der ganzen Schweiz ausgerollt.
Das Ziel ist dabei, dass möglichst viele Patientinnen, Patienten und Angehörige im Kontext eines Spitalaufenthaltes erfahren, wie die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für sie förderlich sein kann. Sie erfahren, wie eine Selbsthilfegruppe «tickt», und wo sie weiterführende Informationen dazu erhalten können.
Der Eintritt der Betroffenen in eine Selbsthilfegruppe noch während einem ersten Spitalaufenthalt ist dabei zunächst nicht im Zentrum. In dieser Phase steht die medizinische Behandlung zu Recht im Vordergrund. Wenn die Betroffenen jedoch nach einiger Zeit akzeptieren müssen, dass ihre Erkrankung lange dauert oder chronisch wird, ist es wichtig, dass sie die Selbsthilfe als zusätzliche Hilfe bereits kennen und sie nutzen. Das Spital kann dies fördern, indem besonders bei wiederholten Behandlungen oder ambulanten Nachbehandlungen erneut auf die Selbsthilfegruppen hingewiesen wird.
Eine etwas andere Rolle spielt das Angebot der Gruppen für Angehörige: Ist ein Familienmitglied, zum Beispiel ein Kind, schwer erkrankt, so sind Angehörige oft froh, bereits während der schwierigen Zeit des Spitalaufenthalts Unterstützung von Gleichbetroffenen zu erhalten.
Rund 2700 Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige gibt es in der Schweiz. Häufiges Thema: die somatische und psychische Gesundheit.
© Selbsthilfe Schweiz

Qualitätskriterien für Spitäler

Ein Spital wird als «Selbsthilfefreundlich» angesehen, wenn es folgende sechs Qualitätskriterien umsetzt:
Diese Qualitätskriterien dienen als Leitlinien, die es einem Spital ermöglichen, die Kooperation mit der Selbsthilfe bedarfsgerecht und pragmatisch umzusetzen.

Auszeichnung nach einem Jahr

Für die Umsetzung schliesst ein Spital jeweils mit einem regionalen Selbsthilfezentrum (siehe Kasten) eine Zusammenarbeitsvereinbarung ab. Gemeinsam werden anschliessend auch Betroffene (Patienten, Patientinnen oder Angehörige) miteinbezogen. Im so entstandenen «Kooperationsdreieck» wird für jedes Spital ein individueller Massnahmenplan entwickelt (basierend auf einer Vorlage von Selbsthilfe Schweiz). Dieser beschreibt, wie in diesem Spital ganz konkret die Qualitätskriterien umgesetzt werden können und welche Aufgaben dabei das Spital, die Selbsthilfegruppen und das Selbsthilfezentrum wahrnehmen.
Werden diese Massnahmen während eines Jahres erfolgreich implementiert, so werten die Partner im Kooperationsdreieck die Umsetzung im Rahmen einer «strukturierten Besprechung» miteinander aus. Auf Basis dieser dokumentierten, systematisierten Selbstevaluation und des aktuellen Massnahmenplans, kann das Spital dann von Selbsthilfe Schweiz die Auszeichnung «Selbsthilfefreundliches Spital» erhalten.
Das Qualitätskriterium Nummer vier, die Benennung einer Ansprechperson für das Thema «Selbsthilfe», ist dabei der Schlüssel für eine gelingende Förderung der Selbsthilfe im Spital. Es handelt sich üblicherweise um Mitarbeitende aus dem Kader, beispielsweise die Leitung Pflege oder auch Verantwortliche für Care Management oder Qualität. Wichtig ist, dass die Person in einer Position ist, in der sie innerhalb des Spitals auch interprofessionell und bereichsübergreifend mit anderen Mitarbeitenden zusammenarbeiten kann. So muss beispielsweise für die Umsetzung der Qualitätskriterien eins und drei meistens mit der Kommunikationsabteilung zusammengearbeitet werden oder auch mit einem technischen Dienst. Dies wenn es beispielsweise darum geht, einen Ort zu schaffen, an dem Selbsthilfegruppen regelmässig Flyer mit Informationen über ihre Angebote auflegen können, oder auf der Website des Spitals auf die Kooperation mit der Selbsthilfe aufmerksam zu machen.
Sinnvoll ist es auch, via Auftrag an administrative Mitarbeitende sicherzustellen, dass regelmässig und in genügender Zahl Informationsmaterial über das Selbsthilfezentrum, die Gruppen und ihre Angebote vorhanden sind. Um die Patientinnen und Patienten systematisch und regelmässig zu informieren, gilt es, Prozesse mit der Pflege abzusprechen. So kann man beispielsweise dafür sorgen, dass auf einer Austritts-Checkliste festgehalten ist, dass auf die Selbsthilfe hingewiesen werden soll. Ebenfalls sinnvoll ist eine Schulung des Personals in Bezug auf die Selbsthilfe. Die Spitäler nutzen dafür meist bestehende Gefässe. Die in den Selbsthilfezentren tätigen Fachpersonen gestalten dann den inhaltlichen Input.

Partnerschaft auf Augenhöhe

Ein wichtiger Aspekt der «Selbsthilfefreundlichkeit» ist der Einbezug der Selbsthilfegruppen als Partner auf Augenhöhe. Die Freiwilligen besitzen sehr viel Erfahrungswissen zum Umgang mit einer Erkrankung als Betroffene im Alltag. Sie haben den Patientenpfad im Spital je nachdem selbst durchlaufen und haben erlebt, was eine Behandlung beinhaltet und was dies aus Patientenperspektive bedeutet. Als Beteiligte im «Kooperationsdreiecks» können sie sich dazu äussern, ob die Ideen zur Förderung der Selbsthilfe auch aus Patientensicht überzeugen. Das Qualitätskriterium Nummer fünf stellt sicher, dass sie systematisch einbezogen werden.
Wichtig ist darüber hinaus aber auch, dass im Kontext von Qualitätskriterium sechs gemeinsam Wege entwickelt werden, wie das Wissen der Betroffenen vom Spital zu Gunsten anderer Patienten und Patientinnen genutzt werden kann. Hier sind sehr individuelle Lösungen möglich. Oft beteiligen sich die Personen aus Selbsthilfegruppen an Patienten-Informationsveranstaltungen oder internen Personalschulungen. Einige Spitäler beziehen sie auch in Gremien wie Qualitätszirkel oder das Beschwerdemanagement ein.
Viele langjährig in Selbsthilfegruppen Aktive sind sehr motiviert, andere Betroffene anzusprechen und sich bei der Kommunikation einzubringen. So kennen viele der beteiligten Spitäler regelmässig stattfindende «Selbsthilfe-Info-Cafés» und ähnliche Anlässe, bei denen die Menschen im Spital direkt vor Ort über die Selbsthilfe informiert werden, Fragen stellen können und Personen aus den Gruppen kennenlernen.

Unkompliziertes, effizientes Zusatzangebot

Der Aufwand für die «Selbsthilfefreundlichkeit» seitens des Spitals bleibt dabei sehr überschaubar. Die Aufbauarbeit bis zur ersten Auszeichnung eines Spitals dauert erfahrungsgemäss rund zwei Jahre. In dieser Zeit investieren die zuständigen Personen seitens des Spitals rund 35 Stunden pro Jahr, die Selbsthilfezentren ungefähr das Doppelte. Die Qualitätskriterien sind darauf ausgelegt, dass im Rahmen dieser Aufbauphase die Vorgehensweisen für die Umsetzung der Massnahmen erprobt und bei Bedarf verbessert werden. Ziel ist es, dass bei der Auszeichnung Prozesse und Zuständigkeiten geklärt und nachhaltig verankert sind. Somit können sie anschliessend in den Regelbetrieb integriert und mit wesentlich geringerem Aufwand weitergeführt werden. Mit wenig Koordinationsaufwand kann somit den Betroffenen und Angehörigen ein niederschwelliges und wertvolles Zusatzangebot offeriert werden.

Selbsthilfe in der Schweiz

In der Schweiz gibt es rund 2700 Selbsthilfegruppen zu rund 350 verschiedenen Themen, drei Viertel davon Gesundheitsthemen. Insgesamt nehmen etwa 45 000 Menschen an Selbsthilfegruppen teil.
Die Mitgliedschaft ist freiwillig und die Selbsthilfegruppen sind ideologisch unabhängig und nicht gewinnorientiert. Die Teilnehmenden gestalten ihre Treffen selbständig. Etwas stärker strukturiert als die lokalen Gruppen sind die über zweihundert themenspezifischen Selbsthilfeorganisationen, die oft Gruppentreffen an verschiedenen Standorten anbieten.
In der Schweiz gibt es 22 regionale Selbsthilfezentren, die von Fachpersonen geführt werden. Sie koordinieren und begleiten die Selbsthilfegruppen, beraten Betroffene und informieren über die Selbsthilfe.
Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz setzt sich als Dachorganisation unabhängig vom Thema für die gemeinschaftlichen Selbsthilfe ein. Über die Webseite www.selbsthilfeschweiz.ch können alle Gruppen online gefunden werden.
1 Blog-Beitrag vom 21.3.22 auf www.selbsthilfefreundlichkeit.ch
2 Lanfranconi LM, Stremlow J, et al. Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Schweiz. Bedeutung, Entwicklung und ihr Beitrag zum Gesundheits- und Sozialwesen. Bern: Hogrefe; 2017.
3 Bobzien M. Selbsthilfefreundliches Krankenhaus – auf dem Weg zu mehr Patientenorientierung. Ein Leitfaden für interessierte Krankenhäuser. Essen: BKK-Bundesverband (Hrsg.); 2008.
4 Kessler C, Lasserre Moutet A. Konzept Selbstmanagement-Förderung bei nichtübertragbaren Krankheiten, Sucht und psychischen Erkrankungen. Bern: Bundesamt für Gesundheit (Hrsg.); 2022.
5 Meldung vom 11.5.22 auf www.usz.ch/news (zuletzt aufgerufen am 9.2.2023)
7 gesundheitsfoerderung.ch/pgv.html