Ohne Grundversorgung wird’s richtig teuer

Organisationen
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21254
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):46-48

Affiliations
Freier Mitarbeiter, medswiss.net, Dachverband der Schweizer Ärztenetze

Publiziert am 01.02.2023

Grundversorgung Die Hausarztmedizin könnte dort helfen, wo es harzt im Schweizer Gesundheitswesen: Sie ist kostensparend und gut koordiniert. Doch noch wird ihr Potenzial zu wenig genutzt, finden die Teilnehmenden des 3C-Meetings in Davos.
Unter der Schirmherrschaft von medswiss.net haben sich am 28. und 29. Oktober 2022 in Davos rund 80 Fachleute der hausärztlichen Gesundheitsversorgung am 3C-Meeting («Community of Coordinated Care») getroffen. Sie haben darüber diskutiert, wie eine qualitativ hochstehende hausärztlich koordinierte medizinische Versorgung in der Schweiz zu tragbaren Kosten nachhaltig sichergestellt werden kann. Unter den Teilnehmenden waren Vertreter und Vertreterinnen von Ärzte- und Praxisnetzen, Betriebsgesellschaften, Versicherungen sowie Verbänden aus der Politik.
Digitalisierung in den Hausarztpraxen? Ja – aber nur, wenn sie eine echte Vereinfachung der Abläufe bietet, sagen die Teilnehmenden des 3C-Meetings.
© Werner Maeder

Gesundheitswesen als Patient

Das Schweizer Gesundheitswesen krankt an allen Ecken und Enden und braucht koordinierte Behandlung. Nur scheint dies in unserem ökonomischen Umfeld und im politischen System kaum machbar. Im Gerangel um Tarife, staatliche Kontrolle, tradierte Einflussbereiche und festgefahrene Gewohnheiten läuft dieser Patient Gefahr, eine der besten Therapien zu verlieren: die bewährte Betreuung und Behandlung durch erfahrene Hausärztinnen und Hausärzte, die rund 80% der medizinischen Probleme selbst lösen können.

Warum hausärztliche Grundversorgung?

Allein das Vermeiden von Ineffizenzen könnte Milliarden einsparen, wie Nationalrätin Ruth Humbel an der Tagung darlegte: Mangelnde Koordination der Leistungen koste uns drei Milliarden Franken, die angebotsindizierte Nachfrage weitere ein bis zwei Milliarden und der sogenannte Moral Hazard rund zwei Milliarden.
Anne Sybil Götschi, Präsidentin medswiss.net
© Werner Maeder
Humbel attestiert den gut strukturierten Ärztenetzen mit Budgetmitverantwortung, diese Ineffizienzen durch Koordination der Behandlung und durch Vermeiden unnötiger Therapien zu minimieren. Sie sparen bei besserer Behandlungsqualität risikobereinigt 15-20% der Kosten ein.
In seinem Einführungsreferat «Grounding der ambulanten Versorgung? Ohne Grundversorgung wird’s richtig teuer» betonte Dr. med. Wolfgang Czerwenka, Verwaltungsratspräsident Argomed Ärzte AG, denn auch, dass das Hausarztmodell nicht bloss ein Versicherungsmodell sei, sondern ein Versorgungsmodell, das
Aktuell deutet aber vieles darauf hin, dass der kostendämpfende Beitrag der Hausarztmedizin und insbesondere die Koordinationsleistungen der Hausarztnetze zu wenig gewürdigt werden.
Die koordinierte Versorgung muss von der Politik ohne etatistische Regulierung gestärkt werden. Auf diesen wunden Punkt des zweiten Kostendämpfungspaket des Bundes wies Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH, in ihrem Referat hin: Wo bei den politischen Forderungen «Netzwerk» drauf stehe, stecke eigentlich mehr staatliche Administration drin (Artikel 37a & 48a des Kostendämpfungspakets [1]) und vieles deute darauf hin, dass der Staat sich Schritt für Schritt auf eine totale Steuerung hinbewege.

Stärkung der hausärztlichen Medizin

Es brauche Wettbewerb unter den Qualitätsmodellen – keinen Wettbewerb unter den Prämiensparmodellen, sagte Dr. med. Anne Sybil Götschi, Präsidentin von medswiss.net. Die hausärztlich koordinierte Versorgung sei die wichtigste Massnahme zur Sicherung von Qualität und einer kostenbewussten Medizin. Sie beruhe seit Jahren auf Freiwilligkeit bei Ärztinnen und Ärzten, Versicherungen und Patientinnen und Patienten. Das habe sich bewährt.

Lösung in fünf Punkten

Gutstrukturierte Ärztenetze mit Budgetmitverantwortung, wie es sie in allen Regionen der Schweiz gibt, stehen vor einem Marketing-Dilemma. Koordinierte Modelle verfügen nachgewiesenermassen über bessere Qualität der medizinischen Leistungen als konventionelle Lösungen und dies erst noch zu aktuell rund 15 bis 20% tieferen Kosten. Von den Versicherungen werden sie aber als reine Sparmodelle verkauft. Sie teilen sich ihren Platz unter den unzähligen vertragslosen Modellen, darunter Telemedizin und Listenmodelle mit bescheidenem Kostensparnachweis. Sparmodelle werden aber generell mit minderer Qualität assoziiert. Analog dazu müsste die Migros ihrer «M-Budget»-Reihe eine höhere Qualität attestieren als ihren «Selection»-Produkten.
Dies sei ein grosses Problem für die Qualitätsmodelle, sagt Dr. med. Leander Muheim von mediX schweiz, denn Trittbrettfahrermodelle
Leander Muheim sieht es als Aufgabe der Organisationen und Ärztenetzwerke der alternativen Versicherungsmodelle an, ihre leistungsbeziehenden «kranken Patientinnen und Patienten» für ihre Produkte zu mobilisieren und den echten Hausarztmodellen im Markt mehr Bedeutung zu verleihen.
Mit dem Medical-Home-Modell weist Muheim einen Ausweg aus diesem Dilemma:

Digitalisierung fördern

Gemäss einer Studie von McKinsey und der ETH Zürich könnten mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens rund zehn Prozent der Kosten eingespart werden [2]. Die Schweiz gilt aber in diesem Bereich als rückständig und hat einen grossen Nachholbedarf.
Nationalrat Andri Silberschmidt fordert für alle Digitalisierungsmassnahmen der öffentlichen Hand, dass diese analog zum Autobahnbau bloss die Standards festlegt, das heisst die nationalen Regeln definiert, und dann die Privaten die Umsetzung übernehmen können. Dies würde beispielsweise für das elektronische Patientendossier (EPD) bedeuten, dass der Bund die doppelte Freiwilligkeit abschafft, die Grundinfrastruktur sicherstellt und offene Schnittstellen schafft, um wettbewerbsneutral zu bleiben.
Leander Muheim, Vizepräsident mediX schweiz
© Werner Maeder

Manifest für die Digitalisierung

Unter den Teilnehmenden der Tagung ist das Interesse an digitalen Lösungen durchaus vorhanden, wenn diese in der Praxis auch zur Vereinfachung der Abläufe und zu mehr Effizienz im Alltag der Leistungserbringer führen.
FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt
© Werner Maeder
Im Sinne eines «Manifests der Leistungserbringer zur Umsetzung von Digitalisierungsstrategien» haben sie daher die folgenden Forderungen an die Vielzahl der aktuell entstehenden, eingeständigen Lösungen formuliert:

Fazit in fünf Thesen

Die grosse Mehrheit der Bevölkerung wünsche sich eine Hausärztin oder einen Hausarzt. In der Schweiz würden ausserdem in den nächsten Jahren genügend ausgebildet, sagte Dr. med. Felix Huber, Präsident von mediX schweiz [3, 4]. Huber erklärte, es sei aber wichtig «die Attraktivität der Grundversorgung so zu steigern, dass die meisten nach Abschluss ihres Studiums Hausärztinnen, Pädiater und Psychiaterinnen werden wollen. Für sie soll es zudem attraktiv sein, in neuen Gruppenpraxen auf dem Land zu arbeiten.»
Felix Huber, Präsident mediX Schweiz
© Werner Maeder
Huber plädierte dafür, dass die Kantone ihre Weiterbildungsgelder mehrheitlich für die Ausbildung in Allgemeiner Innerer Medizin (AIM) und für Hausarztassistenzstellen einsetzen. Es brauche auch mehr öffentlich mitfinanzierte ländliche Assistenzstellen und hausärztlichen Unterricht für Studierende.
Zum Schluss der Veranstaltung präsentierte er im Sinne eines gemeinsamen Fazits fünf Thesen:
Massnahmenpaket 2: Keine staatlich reglementierte koordinierte Versorgung; Art 35 und 37 sind zu streichen.
Die Veranstaltung machte erneut deutlich, wie wichtig die medizinische Grundversorgung durch eine koordinierte Hausarztmedizin für das Schweizer Gesundheitssystem ist. Sie trägt wesentlich zu hoher Qualität zu tragbaren Kosten bei. Mit guten politischen Voraussetzungen wird dieser Grundpfeiler des Schweizer Gesundheitsmodells auch in Zukunft seinen Beitrag zur weiteren Steigerung der Qualität der Betreuung und Behandlung sowie zur Senkung der Kosten leisten.
1 www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2428/de
2 www.mckinsey.com/ch/our-insights/digitization-in-healthcare
3 www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2021-09/Obsan_04_2021_BERICHT.pdf
4 www.swissuniversities.ch/fileadmin/swissuniversities/Dokumente/Lehre/Medizin/211202_Schlussbericht_SPHM.pdf