Die Praxis bleibt im Dorf

Porträt
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21256
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):80-81

Publiziert am 01.02.2023

Bewegter AbgangWeil niemand seine Praxis übernehmen will, überlässt Heinz Matti sie einer Ärztekette. Nach deren überraschender Insolvenz kauft der Hausarzt sein Unternehmen zurück und kann es schliesslich einer Kollegin übergeben. Ein Rückblick auf 35 Dorfarzt-Jahre mit brisantem Finale.
Kürzlich hat Heinz Matti seine geschäftlichen Pflichten endlich weitergereicht. «Nun hat die Praxis wieder Zukunft», zieht er erleichtert Fazit über den schwierigen Schlussspurt seines Berufslebens in Thun West. Vier Jahre suchte der Hausarzt vergeblich jemanden, der sein Unternehmen übernehmen würde. Deshalb verkaufte er seine Praxis mit 67 Jahren an eine Ärztekette. Heute weiss er: «Ich hätte dieses Angebot genauer prüfen müssen.» Als die Firma dem Praxisteam nach drei Monaten die Löhne schuldig bleibt und wenig später Konkurs geht, reagiert Heinz Matti: Er kauft seine Praxis zurück und kann glücklicherweise eine Kollegin anstellen, welche das Unternehmen nun übernommen hat. Damit ist es dem pensionierten Hausarzt gelungen, die medizinische Versorgung seines Dorfes zu sichern. «Das war meine Motivation.»

Dorfarzt mit Leib und Seele

Seit 1985 hat Heinz Matti unzählige Patientinnen und Patienten im Ort betreut, oft ganze Familien über mehrere Generationen. «Das ist das grosse Privileg der Hausarztmedizin», sinniert er am Esszimmertisch seines luftigen, hellen Heimes unweit der Praxis. «Man begleitet die Menschen über lange Zeit, kennt sie gut und kann sie ganzheitlich behandeln.» Dies hiess für den Dorfarzt, sich auf die Patienten einzulassen und sich Zeit für sie zu nehmen. Auch auf Hausbesuchen, die einen wertvollen Einblick in die Lebensumstände der Menschen gäben: Sei es, dass jemand das Heizholz täglich von draussen hineinbuckeln müsse oder dass die «Mitteli» ungebraucht in der Schublade lagerten. «So sieht man dann: Aha, die Therapie ist angepasst», schmunzelt Heinz Matti. Einen Aufnahmestopp gab es in seiner Praxis nie. «Die Leute sollen dort zum Arzt gehen können, wo sie leben», ist er überzeugt. Und auch daheim sterben dürfen, wie sich dies viele wünschten.
Der Hausarzt Heinz Matti hat es geschafft, eine Praxisnachfolge zu finden.

Sein eigener Chef

Dass es für ihn die Hausarztmedizin werden müsse, merkte Heinz Matti schon früh im Studium. Er wollte selbständig arbeiten können. «Aber selber denken wurde zu meiner Zeit nicht gerade gefördert. Als Neuling hiess es parieren», erinnert er sich, und schiebt schelmisch nach: «Ich habe mich öfters aufgelehnt – ich war wohl nicht der einfachste Assistent.» Er schätzte es, als Generalist viele Gesundheitsprobleme selber behandeln zu können, jedoch stets im Wissen um seine Grenzen: Er habe immer offengelegt, wenn er überfragt war und der Gang zum Spezialisten nötig wurde. «Da ist Ihnen kein Patient böse», sagt er. «Im Gegenteil.»
Diese entspannte und entlastende Haltung hat Heinz Matti auch in seinen Hausarzpraktika zu vermitteln versucht: «Ein Hausarzt muss nicht alles wissen und können.» Der Nachwuchs liegt ihm am Herzen, acht Assistenzärztinnen und -ärzte hat er in seiner Praxiszeit ausgebildet. «Die Jungen müssen die Hausarztmedizin erleben, weil sie durch Ausbildung primär die Spitalmedizin kennen.» Diese könne die junge Ärzteschaft mit einem Zuviel an schwierigsten Fällen, Zeitdruck und maschineller Infrastruktur konfrontieren. «Als Hausärzte hingegen sehen wir auch harmlose Beschwerden, kommen mit einfacher Diagnostik schon ziemlich weit und können mit dem Faktor Zeit arbeiten.» Etwa, um mit vertretbarem Risiko abzuwarten, ob eine Therapie anschlage oder weil man Symptome besser einordnen könne, da man den Patienten schon lange kenne. Damit liessen sich teure Abklärungen oft vermeiden. «Die Hausarztmedizin spart also viel Geld», präzisiert Heinz Matti diese wertvolle Qualität seines Berufs an die Adresse der Politik.

Ein Hoch aufs Team

Sorge getragen hat der Dorfarzt aber nicht nur seinen Patientinnen und Patienten, sondern auch seinem Team. Es könne jemand noch so gut «dökterle», «am Ende ist er nur so gut wie sein Team», hält Heinz Matti fest. Entsprechend zelebrierte er Geburtstage, Teamausflüge und Jubiläen. Die Praxis schloss er während der Ferien auch fürs Personal. Über die Jahre waren es 28 Medizinische Praxisassistentinnen, die mit Heinz Matti zusammenwirkten, abends wechselweise ausharrten, Lernende ausbildeten und bis heute Kontakt halten. «Ich habe nie eine Stelle ausschreiben müssen», erzählt Heinz Matti. «Wenn sich ein Team wohlfühlt, stehen die Chancen sehr gut, dass man auch künftig ausgezeichneten Nachwuchs hat.»
Doch kein Aus nach 35 Jahren: Eine neue Hausärztin führt die Dorfpraxis weiter.
© Fabienne Hohl

Die Zeit nutzen

Was möchte er künftigen Kolleginnen und Kollegen ausserdem mitgeben? «Hört den Patienten wirklich zu, denn oft erzählen sie einem selbst, was los ist.» Dies funktioniere aber nur, wenn man die Begegnung nicht mit der Computertastatur «vertäggere» – an dieser Stelle wird der sonst so bedachte Pensionär in spe ungewohnt energisch – «man verpasst sonst das Wesentliche». Dokumentieren könne man nach dem Termin. Zumal einem die digitalen Instrumente ja prinzipiell mehr Zeit für die Patienten schenkten, hofft Heinz Matti. Für die Zukunft der Hausarztmedizin ist er zuversichtlich, gerade dank der Gruppenpraxen. «Sie ermöglichen mehr Teilzeitpensen und eine etwas ausgewogenere Lebensgestaltung, als meine Generation sie praktizierte.» Seinen Ausgleich zum Beruf fand Heinz Matti in der Familie, dem langjährigen Engagement als Präsident eines Volleyballclubs, in der Stadt-Thuner Gesundheitskommission sowie in der Stiftung eines Wohn- und Arbeitsheims für Behinderte. Dessen Chor wird er als Pensionierter die Treue halten. Er freut sich auf mehr Zeit mit Frau und Familie, aufs Reisen … Und wird weiterhin ein offenes Ohr für ehemalige Patientinnen und Patienten haben. «Es ist schön, wenn man immer noch etwas gefragt ist.»

Porträts in der Ärztezeitung

Wir stellen regelmässig interessante Personen vor, die in Porträts Einblick in ihren ärztlichen Alltag geben.