Darf man Häftlingen Cannabis verschreiben?

Organisationen
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21317
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):41-43

Affiliations
a PD Dr. iur. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forschung & Entwicklung, Direktion der Justiz und des Inneren, Kanton Zürich, b Dr. iur., MSc. Forensische Psychologie, Forschung & Entwicklung, Direktion der Justiz und des Inneren, Kanton Zürich

Publiziert am 01.02.2023

Cannabis auf Rezept Ärztinnen und Ärzte dürfen nun Cannabisarzneimittel ohne Bewilligung des Bundesamtes für Gesundheit verordnen. Aber sind diese Produkte auch für inhaftierte Personen bei entsprechender Indikation zulässig?
Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis durften bisher grundsätzlich weder angebaut, eingeführt, hergestellt noch in Verkehr gebracht werden. Daher liefen Behandlungen mit verwendungsfertigen Arzneimitteln auf Cannabisbasis mehrheitlich über das System der betäubungsmittelrechtlichen Ausnahmebewilligungen durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Dieses System war sehr aufwendig für alle Beteiligten und entsprach aufgrund der steigenden Anzahl von Ausnahmebewilligungen nicht mehr dem Ausnahmecharakter der beschränkten medizinischen Anwendung im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) [1].
Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und den Widerspruch zwischen der zunehmenden medizinischen Verwendung von Cannabis und dessen Einstufung als verbotenes Betäubungsmittel aufzulösen, ist am 1. August 2022 eine Revision des BetmG in Kraft getreten, wonach gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. d BetmG neu Betäubungsmittel des Wirkungstyps Cannabis dann erlaubt sind, wenn sie zu medizinischen Zwecken verwendet werden. Für Cannabis zu nichtmedizinischen, sogenannten «rekreativen» Zwecken gibt es dagegen keine Änderung: Es bleibt verboten – unter Vorbehalt von Art. 19b, wonach der Besitz einer geringfügigen Menge (10 Gramm) straflos ist [2].
Doctor gives the patient prescription for marijuana for medicine in clinic
Seit dem 1. August 2022 ist es neu ohne Ausnahmebewilligung möglich, Cannabis zu medizinischen Zwecken zu verschreiben.
© Nadzeya Haroshka / Dreamstime

Ein einziges zugelassenes Arzneimittel

Verwendungsfertige Arzneimittel dürfen in der Schweiz nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie von der Arzneimittelzulassungsbehörde Swissmedic zugelassen sind [3]. Bisher ist lediglich das Cannabisarzneimittel Sativex (Wirkstoff: Tetrahydrocannabinol THC und Cannabidiol CBD) von Swissmedic zugelassen, und auch dieses nur für eine bestimmte Indikation: die Zusatztherapie von mittelschwerer und schwerer Spastizität bei Multipler Sklerose. Das Medikament Epidyolex, das ebenfalls von der Swissmedic zugelassen ist, und sich auf die Zusatztherapie bei epileptischen Krampfanfällen von Personen mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom oder dem Dravet-Syndrom bezieht, wird vorliegend ausgeklammert, da es sich beim Wirkstoff nicht um THC, sondern lediglich um das nichtpsychoaktive CBD handelt. Somit fällt Epidyolex nicht unter das BetmG.
Für andere Indikationen wie zum Beispiel chronische Schmerzen darf Sativex je nach Konstellation unter gewissen Voraussetzungen off-label verordnet werden. Der Arzt und die Ärztin müssen begründen können, dass der Off-Label-Use dem Stand der Wissenschaft entspricht, und haben sich im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht nach Art. 3 und Art. 26 des Heilmittelgesetzes (HMG) zu richten. Zudem muss die behandelte Person darüber informiert werden, dass bei Off-Label-Use krankenversicherungsrechtlich eine Kostenübernahmepflicht nur unter engen Voraussetzungen Platz greift [4].

Vergütung nur in Ausnahmefällen

Die Kostenübernahme von Leistungen durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) setzt grundsätzlich voraus, dass das Arzneimittel in der Spezialitätenliste des BAG aufgeführt ist [5, 6]. Dafür braucht es sowohl eine heilmittelrechtliche Zulassung der Swissmedic wie auch einen Nachweis bezüglich der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) des Arzneimittels [7]. Die Evidenz zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Cannabisarzneimitteln ist derzeit nach Sicht des Bundes noch ungenügend für eine generelle Vergütung [8]. Demzufolge figuriert nicht einmal Sativex, das von der Swissmedic zugelassen ist, auf der Spezialitätenliste des BAG. Gemäss Art. 71a der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) werden aktuell die kostspieligen Behandlungen nur in Ausnahmefällen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet. Je nach Dosis liegen nämlich die Kosten zwischen 200 und 600 Franken pro Monat, oder auch deutlich höher [9, 10].

Recht auf adäquate medizinische Behandlung

Aufgrund des in Art. 75 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB) statuierten Betreuungsprinzips obliegt dem gesamten Personal von Gefängnissen oder sonstigen Haftanstalten wie Massnahmenzentren oder Kliniken eine besondere Fürsorgepflicht für die inhaftierten Personen; dies gilt auch für den Bereich der Gesundheitsversorgung [11]. In letzterem Zusammenhang gilt das Äquivalenzprinzip. Gemäss diesem Grundsatz muss die Gesundheitsversorgung innerhalb des Freiheitsentzuges gleichwertig mit derjenigen in Freiheit sein. Dies bedeutet, dass die inhaftierten Personen Zugang zu vergleichbaren präventiven, diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Massnahmen und Einrichtungen haben müssen wie bei einer Behandlung in Freiheit. Dieses Prinzip ist durch die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) [12] Teil des ärztlichen Berufsrechts geworden und auch verfassungs- und völkerrechtlich [13] statuiert. Gefängnismediziner und -medizinerinnen sind dementsprechend zu sorgfältigem Handeln verpflichtet, unter der Anforderung, dass eine Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst und somit nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft durchgeführt werden muss [14].

Off-Label-Verordnung

Demzufolge muss eine medikamentöse Behandlung, die extramural von Ärztinnen oder Ärzten als erforderlich erachtet wird und verfügbar ist, auch intramural angeboten werden. Extra- wie intramural gilt: Sativex ist für die Indikation «MS-bedingte Spasmen» zugelassen, kann off-label aber auch für weitere Indikationen wie chronische Schmerzen bei Krebserkrankungen oder neuropathische Schmerzen unterschiedlicher Ätiologie verordnet werden. Die Off-label-Verordnung eines Medikaments soll jedoch nur stattfinden, wenn die als Standard geltende Therapiemethode nicht zum Erfolg geführt hat beziehungsweise im konkreten Einzelfall nicht erfolgsversprechend ist [15, 16]. Mit anderen Worten fällt die Verordnung von Sativex auch im Justizvollzug nicht ausser Betracht, sondern die Ausnahme-Indikation ist bei Versagen anderer therapeutischer Strategien ernsthaft zu prüfen.

Gefängnisärzte sind besorgt

Von einem Teil der in Haftanstalten tätigen Ärzte und Ärztinnen werden seit der Legalisierung des medizinischen Cannabisgebrauchs Befürchtungen geäussert, die sich vor allem aufgrund spezieller situativer Gegebenheiten im intramuralen Setting ergeben. Dazu gehören folgende Argumente:

Begrenzte Auswirkungen

Diese Befürchtungen dürften sich indes überwiegend zerstreuen lassen. Erstens ist die schwierige Objektivierbarkeit nicht nur bei chronischen Schmerzen ein Thema, sondern bei diversen anderen Zuständen, zum Beispiel Angst oder Schlafproblemen. Zum anderen dürfte die Primärindikation (MS) für die medizinische Abgabe von Cannabis im Justizalltag eine verschwindend geringe Rolle spielen. In der Schweiz schätzt man die Prävalenz auf circa 200 Fälle pro 100 000 Einwohner [17]. Sofern die Abgabe zur Behandlung chronischer Schmerzen off-label zur Debatte steht, dürften sich die Fallzahlen in sehr überschaubarem Rahmen halten, weil:
Entsprechend würde die Anzahl der Verschreibungen sehr überschaubar ausfallen. Bezüglich des unerlaubten Handels gestaltet sich die Situation kaum anders als bei der Opioidagonistentherapie (OAT), die heute ein Standard im Justizvollzug darstellt [18]. Dem befürchteten Phänomen des Handels wird durch die Modalitäten der Einnahme begegnet werden können. Gerade beim Medikament Sativex sollte dies unproblematisch sein, da es sich dabei um einen Spray handelt, der beispielsweise unter Aufsicht im Arztdienst appliziert werden könnte. Damit bleibt das Argument der obsoleten Labortests für Cannabis: Bei den Patientinnen und Patienten mit verordneter Cannabistherapie wären Labortests tatsächlich nicht mehr sinnvoll. Allerdings ist bei diesen unwahrscheinlich, dass sie zusätzlich unerlaubt Cannabis konsumieren.
1 Botschaft zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (Cannabisarzneimittel), BBI 2020 6069.
2 Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (Cannabisarzneimittel): Bericht über die Ergebnisse der Vernehmlassung, 2020, 1 ff.
3 Art. 9 Abs. 1 Heilmittelgesetz vom 15. Dezember 2000, SR 812.21.
4 BGE 134 IV 175 S. 179; SAMW: Rechtliche Grundlagen im medizinischen Alltag, 2020, 65, www.samw.ch/de/Publikationen/Leitfaden-fuer-die-Praxis.html
5 www.bag.admin.ch/bag/de/home/begriffe-a-z/spezialitaetenliste.html
6 vgl. Art. 52 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG), SR 832.10.
7 Art. 65 Abs. 3 der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV), SR 832.102.
8 Oordt A, Eeuwijk J, Bunge E, Wester V, Klein P, Kanters T et al. Medical cannabis for treating various symptoms in Switzerland, Health-Technology-Assessment-Report, BAG, 2021, 1-171.
11 Brägger B. Art. 75 N 10. In: Niggli MA, Heer M, Wiprächtiger H (Hrsg.). Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl., Basel 2019.
12 «Der Anspruch auf gleichwertige Behandlung umfasst nicht nur den Zugang zu präventiven, diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Gesundheitsmassnahmen, sondern auch die im Arzt- und Patientenverhältnis zu beachtenden Grundregeln wie z.B. das Recht auf Selbstbestimmung und Information und die Wahrung der Vertraulichkeit.»; www.samw.ch/dam/jcr:1ad584ee-ad5f-4aa1-9f8b-96335d329a3e/richtlinien_samw_inhaftierte.pdf (Seite 16).
13 «(…) Gefangene sollen den gleichen Standard der Gesundheitsversorgung erhalten, der in der Gesellschaft verfügbar ist (…)»; www.unodc.org/documents/justice-and-prison-reform/Nelson_Mandela_Rules-German.pdf (Regel Nr. 24, Abs. 1).
14 BGE 130 V 7, E. 3.3; BGE 133 III 121, E. 3.1, Urwyler et al. (vgl. 12).
15 Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Motion 11.3001 – «Heilversuche» der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates, 9, www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/cc/bundesratsberichte/2015/heilversuche.pdf.download.pdf/Heilversuch_BR-Bericht_DE_webseite.pdf
16 Positionspapier der Kantonsapothekervereinigung: Empfehlungen zum off label use von Arzneimitteln vom 1.6.2016, www.kantonsapotheker.ch/fileadmin/docs/public/kav/2_Leitlinien___Positionspapiere/0007_anforderungen_an_den_off-label-use.pdf
18 Urwyler T, Braunschweig M, Noll T, Caflisch C, Herdener M, Sternemann U et al. Indikation der Opioidagonistentherapie (OAT) im Justizvollzug. Jusletter vom 24. Oktober 2022.