Die ärztliche Kunst, das Unsichtbare zu erkennen

Forum
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21338
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):26

Publiziert am 08.03.2023

Buchbesprechung Den Menschen als Ganzes wahrnehmen und behandeln – dieses Credo vertritt Rolf Adler, Pionier der psychosozialen Medizin, seit Jahren unermüdlich. Nun sind seine Aufsätze in einem Sammelband erschienen. Peter Weibel hat sie rezensiert.
Das Unsichtbare sichtbar machen» ist ein wunderbar paradigmatischer Titel: Das nicht leicht erkennbare Unsichtbare dem schnell zugänglichen Sichtbaren entgegensetzen. Das Verborgene, nur durch ärztliche Kunst zu entdecken, dem Sichtbarkeitsdenken der heutigen Medizin entgegenhalten.
Die 26 gesammelten Aufsätze von Rolf Adler seien «ein schillerndes Mosaik», sagt Peter Weibel.
© Maxim Tupikov / Dreamstime

Anamnese als Auslaufmodell?

Das Sichtbarkeitsdenken, gefördert durch technische Hochleistungen, ist verführerisch, es beginnt längst, die Medizin zu dominieren und die ärztliche Kunst der Gesprächsführung, des empathischen Verstehens und Erkennens zu verdrängen. Keiner weiss das besser als Rolf Adler, emeritierter Pionier der psychosozialen Medizin. Eine lakonische Antwort eines Hausarztes auf einen bereits publizierten Aufsatz des Autors von 2016 ist Dokumentation und erschreckende Bestandesaufnahme zugleich: «Weil das Eintritts-CT keinen Befund ergab, entschlossen wir uns zu einer Anamnese.»

Ein Rufer in der Wüste

Als wäre die Anamnese, das verstehende und einordnende Gespräch mit dem Menschen, mit seiner Krankheit, nicht der unabdingbare Schlüssel zu jedem diagnostischen und therapeutischen Handeln. Rolf Adler weiss, dass es nicht mehr unabdingbar ist. Dass der Paradigmenwechsel von der Biomedizin zur biopsychosozialen Medizin, den er unermüdlich vorangetrieben hat, in Gefahr ist: «Der gute Arzt behandelt die Krankheit, der grosse Arzt den Patienten mit seiner Krankheit.»
Rolf Adler ist der Rufer in der Wüste, der beharrlich weiterkämpft und sein Lebenswerk mit Supervisionen und Ausbildungen für Ärztinnen und Ärzte enthusiastisch weiterführt – und unermüdlich publiziert. Seine Aufsätze und Essays sind leuchtende Fremdkörper, Farbtupfer im gleichfarbigen Innenraum der medizinischen Fachzeitschriften in den Jahren 2016 bis 2022. Nun liegen sie als Sammlung in Buchform vor.

Die ärztliche Fachkompetenz schützen

Die Sammlung ist ein schillerndes Mosaik ausgewählter Publikationen: «Ist der Patient Patient oder Kunde?» / «Im Schmerz gefangen» / «Diagnosenliste: Komplexes Problem einfach gelöst» und viele mehr. Die 26 Texte sind dicht und spannend geschrieben, einige mit Bezug zur Literatur und Mythologie, manchmal ironisch augenzwinkernd, manchmal bissig (Gutachtertätigkeit, patientenfeindliche Kostenökonomie), immer in Sorge um die Gefährdung ureigener ärztlicher Fachkompetenz. Und immer mit der Überzeugung, dass den Patientinnen und Patienten mit ihren Krankheiten nur gerecht wird, wer den ganzen Menschen mit seinen frühen Erfahrungen, seinen Verlusten und Prägungen versteht.
Rolf Adler ist nicht nur Pionier der psychosozialen Medizin, der den Ruhestand nicht kennt, er ist auch ein begabter Erzähler. Wer das Buch liest, entdeckt immer wieder spektakuläre Geschichten und Anekdoten. Nicht nur, aber auch deshalb ist es ein Leseerlebnis.
Rolf Adler Das Unsichtbare sichtbar machen
Thun: Weber Verlag; 2022
Dr. med. Peter Weibel,
Domicil Baumgarten, Bern