Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21349
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(0102):74-75

Publiziert am 11.01.2023

Mittendrin Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen gehören mitten ins soziale Gefüge und ins Zentrum der Netzwerkarbeit. Oftmals gestaltet sich das schwierig: Denn in unserem Gesundheitssystem gibt es in der Versorgungskette noch Luft nach oben. Neue Initiativen zeigen, wie es in Zukunft besser gemacht werden kann.
Es ist kurz vor 18 Uhr und Herr Pfeiffer holt seine Frau im Tageszentrum ab. Dem vorausgegangen ist ein kurzer Anruf zwischen ihm und einer Mitarbeiterin des Tageszentrums. Für ihn ist es immens wichtig zu wissen, was ihn beim Abholen seiner Ehefrau erwartet. Er will seine Fragen, und es sind stets einige, im Voraus geklärt haben. Im Zentrum steht sein Anliegen nach Information, Bestätigung und Stärkung, dass er es «richtig» macht und alles tut, damit es seiner Ehefrau gut geht: «Ich weiss zu Hause oft nicht, wie ich in der Situation reagieren oder was ich sagen soll, und stehe da wie der Esel am Berg.» Der Austausch mit einer Mitarbeiterin des Tageszentrums gibt ihm Sicherheit und bestärkt ihn, dass er auf dem richtigen Weg ist und seiner Frau viel Gutes tut. Es entspricht seinem Wunsch, dass beim Abholen dann uneingeschränkt seine Ehefrau im Fokus steht. Mit diesem Telefonat kommt der betreuende und pflegende Ehemann voll auf seine Rechnung. Auch wenn es aufwändig erscheint, diese kleinen Dinge lösen das Versprechen ein, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen als Teil der Gesellschaft mittendrin stehen.
Bei der Betreuung von Menschen mit Demenz ist ein personenzentrierter Ansatz essentiell.

Das grösste Pflegezentrum

Ein stattlicher Anteil an professionellen Pflege- und Betreuungspersonen für Menschen mit Demenz arbeitet in einem institutionellen Kontext. Es braucht immer wieder einen klaren Blick auf die Tatsache, dass das grösste Pflegezentrum der Schweiz nicht in einem Pflegezentrum zu suchen ist, sondern im Zuhause der Betroffenen. Dort wird enorm viel geleistet: Von pflegenden und betreuenden Angehörigen und von professionellen Dienstleistern. Für Menschen mit Demenz stehen die Zeichen jedoch auf Sturm, denn diese Erkrankung ist in unserem Finanzierungssystem denkbar schlecht aufgehoben. Pflege und Betreuung, welche sich in einem reellen Verständnis kaum trennen lassen, sind in Wirklichkeit zwei komplett verschiedene Schuhe. Während sich an der Pflege die Krankenversicherer und die öffentliche Hand beteiligen, wird die Betreuung «out of the pocket» selbst bezahlt. Finanziell gesehen ist es einfach Pech, wenn man an Demenz erkrankt und nicht stattdessen eine neue Herzklappe benötigt. Zarte Hoffnung gibt es in diesem Bereich durch die Initiative der Paul Schiller Stiftung «Gute Betreuung im Alter» [1], welche eine ausgereifte und fundierte Studie mit einer fachlichen und politischen Einordung publiziert hat. Es ist zu hoffen, dass die Dringlichkeit des Anliegens erkannt wird. Es ist schwer vorstellbar, wie sonst die Herausforderungen des demografischen Wandels gemeistert werden sollen.

Lücken im Versorgungsnetz

Betroffene Personen und ihre Angehörigen berichten nach wie vor, dass sie Vielerorts eine fragmentierte Beratung erhalten. Das Netzwerk der Akteurinnen und Akteure wird immer noch mässig verwoben erlebt. Nimmt man die Errungenschaften im Bereich Palliative Care als Massstab, hat der Vernetzungsgedanke für Menschen mit Demenz vielerorts noch viel Luft nach oben. Da braucht es unbedingt mehr Aufmerksamkeit in der Versorgungskette. Gerade diese Netzwerkaktivitäten haben in Zeiten der Pandemie schwer gelitten.

Positive fachliche Entwicklung

Grundlegend für den Umgang mit Menschen mit Demenz ist ein person-zentrierter Ansatz, der den Menschen mit Demenz sowie die Beziehungsgestaltung und -förderung in den Mittelpunkt stellt. Auch für die Behandlung von behavioral and psychological symptoms of dementia (BPSD) stehen eine demenzgerechte Umgebung und entsprechend geschultes Personal im Zentrum [2]. Diese Tatsache stärkt in extremis die Rolle und Fachlichkeit der Pflege und die Wichtigkeit einer angemessenen personellen Ausstattung rund um die Uhr.
In der Behandlung werden häufig Neuroleptika eingesetzt [2]. Die Gabe von Neuroleptika soll jedoch mit strenger Indikationsstellung, geringstmöglicher Dosierung, zeitlicher Limitierung und engmaschiger Kontrolle verbunden sein [3]. Neuroleptika haben schwerwiegende Nebenwirkungen (Sedierung, Dämpfung der Gefühle, extrapyramidale Symptome, Stürze, Delir, zerebrovaskulärer Insult, erhöhte Mortalität). Für die Behandlung von BPSD kann daher nicht genug betont werden, dass nichtmedikamentöse Massnahmen mit einem Fokus auf die Beziehungs- und Interventionsgestaltung deshalb immer erste Priorität haben [2].
Grundsätzlich hat sich viel Positives bewegt: Viele Dienstleister im stationären und ambulanten Bereich haben eine vertiefte fachliche Expertise erlangt. Der Einsatz von geriatrischen Pflegeexpertinnen und -experten hat aus Sicht der Autorin eine der grössten Hebelwirkungen. Das Projekt INTERCARE Nurse der Universität Basel [4] hatte in diesem Bereich sicherlich Modellcharakter und kann zur Implementierung wärmstens empfohlen werden.

Herausforderungen der Gegenwart

Bauen kann jeder! Mit dieser Plattitüde soll keineswegs die architektonische und handwerkliche Arbeit herabgesetzt werden. Das Fachpersonal im Gesundheitswesen wird jedoch den Takt angeben und nicht das mögliche Investitionsvolumen in die Bautätigkeit. Im Fokus der Mangellage steht dabei oftmals das Pflegepersonal. Genauso dringlich stellt sich die Frage, wie die ärztliche Versorgung von Alters- und Pflegeheimen mit einer steigenden Anzahl von Ein- und Austritten und nach oben tendierender Pflegestufe respektive medizinischer Behandlungskomplexität bewältigt werden soll.
Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sind explizit darauf angewiesen mittendrin zu sein. Mitten im Fokus unserer Aufmerksamkeit und Kommunikation. Mitten im sozialen Gefüge, denn Einsamkeit und soziale Isolation wirken wie eine Bremse. Mitten in der Gesellschaft und im (Ver)sorgenetz sind Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen adäquat aufgehoben.

Für Sie zusammengefasst vom:

5th SFCNS Kongress
28.-30.09.2022
Congress Center Basel
Marlies Petrig
arbeitet als Co-Geschäftsleiterin im KZU Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit in Bassersdorf und ist Vize-Präsidentin von Langzeit Schweiz, einem Fachverband des SBK.