Demenzbehandlung: Die Rolle der Neurofächer

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21354
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(0102):70-71

Publiziert am 11.01.2023

Therapie Die Therapie von Demenzerkrankungen ist eine interprofessionelle Aufgabe. Auch wenn wirksame krankheitsmodifizierende Medikamente bisher fehlen, kann mit einer koordinierten, symptomatischen Therapie zu einer besseren Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen beigetragen werden. Eine mögliche kausal wirkende medikamentöse Therapie steht auf der Schwelle zu Einführung.
In der Schweiz sind derzeit etwa 150 000 Menschen von einer Demenz betroffen [1]. Jährlich kommen 32 000 neue Fälle hinzu. Von ihnen erhalten etwa 50% eine detaillierte Abklärung der Demenzursache. Während eine Demenzabklärung meist einmalig im Krankheitsverlauf erfolgt, ist die Therapie der Demenz eine langfristige Aufgabe, die sich über den ganzen Verlauf der Erkrankung erstreckt. Je nach Demenzursache kann diese Zeitspanne viele Jahren betragen. Die Ziele der Therapie sind dabei stark vom Stadium und den Symptomen der Demenz abhängig.
Die Rolle der Neurofächer im therapeutischen Prozess wurde am 28.09.2022 im Rahmen des 5. Kongresses der klinischen Neurofächer SFCNS (Swiss Federation of Clinical Neurosciences) mit führenden Vertretern aus dem Gesundheitswesen und von Patientenorganisationen, Klinikern und Politikern diskutiert (). Während in der Frage der Finanzierung von Therapie- und Betreuungskosten die Meinungen auseinandergingen, waren sich die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion einig, dass ein starkes Engagement der Neurofächer in der Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Demenz sehr wünschenswert ist.
Podiumsdiskussion am SFCNS-Kongress zum Thema «Die Rolle der Neurofächer in der Behandlung und Betreuung von Menschen mit Demenz».

Demenztherapie beginnt mit der Demenzabklärung

Für eine gute Steuerung von therapeutischen Massnahmen bei Demenz ist eine möglichst präzise ätiologische Diagnose wichtig. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob eine Aphasie als einziges Symptom einer nicht-flüssigen Variante einer frontotemporalen Demenz auftritt, oder ob eine Aphasie zusammen mit Gedächtnis- und Orientierungsstörungen als eines von vielen Symptomen einer Alzheimer-Erkrankung besteht. Im ersten Fall kann eine langjährige logopädische Therapie zur Sprachtherapie und Anwendung von Kommunikationshilfen als einzige therapeutische Massnahme indiziert sein. Im zweiten Fall steht eher der Erhalt von Alltagskompetenzen und Gedächtnistraining im Vordergrund.
Unter anderem aus diesem Grund sehen die Empfehlungen zur Diagnostik der Demenz [2] eine generelle Indikation zur Durchführung einer Abklärung bei Demenzverdacht vor.
Nach einer Demenzabklärung ist es wichtig, dass ein enger Austausch zwischen Abklärungsstellen, Grundversorgern und Therapeuten stattfindet. In der Regel werden nach einer Demenzabklärung in einer Memory Clinic detaillierte Empfehlungen zu sinnvollen Therapien gegeben. Hierfür ist es wichtig, die lokalen Angebote gut zu kennen. Dieses Know-How ist eine der Stärken der Memory Clinics, ist aber auch bei Spezialisten der Neurofächer vorhanden.
An der Schnittstelle zwischen Demenzabklärung und Therapiebeginn sollte zudem auch der Kontakt zu Patientenorganisationen wie den Sektionen des Vereins Alzheimer Schweiz hergestellt werden. Die dort angebotenen Unterstützungs- und Beratungsangebote sind für die Betroffenen und ihre Angehörigen äusserst hilfreich und können auch als therapeutische Massnahme angesehen werden.

Demenztherapie: Vielseitig und interprofessionell

Non-pharmakologische Therapien bieten verschiedene Ansatzpunkte in der Demenzbehandlung. Mögliche Therapieziele können das direkte Training kognitiver Fähigkeiten, Verbesserung einzelner Symptome einer Demenz, Prävention von Komplikationen oder die Verhinderung bzw. Reduktion von Verhaltenssymptomen sein (). Das übergeordnete Therapieziel bleibt dabei immer die Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen.
Wichtig ist, dass Therapien ressourcenorientiert eingesetzt werden. In der Demenzdiagnostik werden kognitive Defizite objektiviert, sie bilden die Grundlage der Diagnose. Doch für die Therapie ist es wichtiger, die noch vorhandenen kognitiven Fähigkeiten zu identifizieren und zu trainieren. Die Identifikation dieser Ressourcen ist ebenfalls ein Ziel einer Demenzabklärung.

Medikamentöse Therapien

Neben den non-pharmakologischen Therapien stehen Medikamente zur symptomatischen Therapie der Demenz zur Verfügung. Die Wirksamkeit von Acetylcholinesterase-Inhibitoren und Memantin wurde in der Vergangenheit teils hinterfragt. Aber in einem aktuellen Health Technology Assessment-Bericht kommt die Autorengruppe zum Schluss, dass die Behandlung sehr wohl als wirksam und kosteneffizient anzusehen ist [3]. Insofern sollte sie Patientinnen und Patienten mit Diagnose einer Alzheimer-Demenz angeboten werden. Bei Diagnose einer Parkinsondemenz besteht für Rivastigmin eine entsprechende Indikation. Eine Zulassung für die Behandlung kognitiver Störungen haben zudem die verschiedenen Ginkgo-biloba-Präparate.
Im Gegensatz zu diesen symptomatischen Therapien steht weiterhin keine zugelassene krankheitsmodifizierende Therapie der Demenz zur Verfügung. Dies könnte sich für die Alzheimer-Demenz allerdings bald ändern, nachdem für den Anti-Amyloid-Antikörper Lecanemab im November 2022 positive Studienergebnisse publiziert wurden [4]. Danach wurden mit diesem Präparat klinische Endpunkte wie die Abnahme der Kognition oder der Aktivitäten des täglichen Lebens signifikant verlangsamt. Allerdings sind die absoluten Effektstärken moderat. Bis zur routinemässigen Anwendung neuer Antikörper-Therapien in der Schweiz müssen noch viele Fragen geklärt werden. Hierzu zählen klinische Ein- und Ausschlusskriterien für die Behandlung, mögliche Limitationen und die Bewertung der zu erwartenden Effekte im Verhältnis zu den Kosten.

Herausforderungen in der Demenzbehandlung

Die Podiumsdiskussion im Rahmen des SFCNS-Kongresses zeigte neben den genannten gemeinsamen Positionen auch auf, dass hinsichtlich der Finanzierung von Therapie- und Betreuungskosten im Demenzbereich unterschiedliche Meinungen existieren. Auf der einen Seite wiesen Vertreter von Ärzte-, Pflege- und Patientenorganisationen auf die grossen Lücken in der Finanzierung hin. Auf der anderen Seite betonten Vertreter von Kostenträgern, dass genügend Instrumente für eine angemessene Vergütung von Leistungen vorhanden seien. Eine Auflösung dieser unterschiedlichen Sichtweisen gelang in der Diskussion nicht und war auch nicht das Ziel – sie wird letztlich nur durch politische Diskussion und Initiativen möglich sein, die im Parlament und in der Bevölkerung mehrheitsfähig sind.

Für Sie zusammengefasst vom:

5th SFCNS Kongress
28.-30.09.2022
Congress Center Basel
Dr. med. Ansgar Felbecker
ist Facharzt für Neurologie und Leitender Arzt mit Spezialisierung im Bereich Demenz am Kantonsspital St. Gallen. Er ist Präsident der Swiss Memory Clinics.
Prof. Dr. med. Philippe Lyrer
ist Facharzt für Neurologie und Stv. Chefarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital Basel.
Tabelle 1: Eine Auswahl verschiedener Therapieformen bei Demenz und Beispiele möglicher Therapieinhalte
Therapieform (Auswahl)Mögliche Inhalte
PhysiotherapieErhalt der Mobilität, Sturzprävention
ErgotherapieKognitives Training, Erhalt von Alltagskompetenzen, Kompensationsstrategien
LogopädieSprachtraining bei Aphasie, Schlucktraining bei Dysphagie
AktivierungstherapieAktive Alltagsgestaltung, Erhalt von Alltagskompetenzen
GedächtnistrainingAktivierung und Erhalt kognitiver Funktionen
Pflegerische InterventionenBasale Stimulation, ambulante / stationäre Pflege
Musiktherapie, kunstgestützte TherapienNon-verbale Kommunikation, Beeinflussung von Verhaltensstörungen, Verbesserung des Selbstwertgefühls
Tageskliniken / TagespflegeKombinierte Therapieverfahren / Entlastung von Angehörigen
EntlastungsdiensteUnterstützung der Aktivitäten des täglichen Lebens, Entlastung von Angehörigen
Die Autoren geben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel an.
1 Alzheimer Schweiz. (2022). «Demenz in der Schweiz: 2022, Zahlen und Fakten.» Abgerufen am 02.12.2022. https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/beitrag/demenz-in-der-schweiz
2 Bürge, M., G. Bieri, M. Brühlmeier, F. Colombo, J.-F. Demonet, A. Felbecker, D. Georgescu, A. Gietl, A. B. Guevara, F. Jüngling, E. Kirsch, R. W. Kressig, L. Kulic, A. U. Monsch, M. Ott, H. Pihan, J. Popp, L. Rampa, B. Rüegger-Frey, M. Schneitter, P. G. Unschuld, A. v. Gunten, B. Weinheimer, R. Wiest and E. Savaskan (2018). «Die Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Diagnostik der Demenzerkrankungen.» Praxis 107(8):435-451.
3 Mattli R, Tomonaga Y, Tzogiou C, Vinci L, Sharakin M, Wirth B, Carlander MJ, Schliek M, Egli P, Gerber-Grote A, Nordström K, Wieser S. Medicines for Dementia due to Alzheimer‘s and Parkinson‘s Disease. BAG, Sektion Health Technology Assessment. 2022. Abgerufen am 02.12.2022. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/versicherungen/krankenversicherung/krankenversicherung-leistungen-tarife/hta/hta-projekte/medikamentebeialzheimerdemenz.html
4 van Dyck CH, Swanson CJ, Aisen P, Bateman RJ, Chen C, Gee M, Kanekiyo M, Li D, Reyderman L, Cohen S, Froelich L, Katayama S, Sabbagh M, Vellas B, Watson D, Dhadda S, Irizarry M, Kramer LD, Iwatsubo T. Lecanemab in Early Alzheimer‘s Disease. N Engl J Med. 2022 Nov 29. doi: 10.1056/NEJMoa2212948. Epub ahead of print.