Gesundheit fängt im Mund an

Forum
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21362
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):21

Publiziert am 22.02.2023

Buchbesprechung Menschen mit Diabetes sollten sich zur Senkung ihres Zuckerwertes an einen Zahnarzt wenden. Warum das so ist, erklären drei Schüler des Schweizer Zahn- und Humanmediziners Hans R. Mühlemann im Lehrbuch «Orale Präventivmedizin». Darin zeigen sie auf, welche zentrale Rolle der interdisziplinären Zusammenarbeit zukommt.
Das Lehrbuch Orale Präventivmedizin – Eine interdisziplinäre Herausforderung analysiert die Wechselwirkungen von allgemeiner/systemischer und oraler Gesundheit. Dabei geht es um die Schnittstellen zwischen Mikrobiotik, Umwelt und menschlichem Organismus, insbesondere seinem entzündungsbedingten Alterungsprozess.
Eine qualitativ und quantitativ gestörte Mikroflora im Orodigestivtrakt kann sich auf den sogenannten «Inflammagingprozess» auswirken. Dabei treten nicht übertragbare chronische Entzündungen wie Allergien, Adipositas, Diabetes, Arteriosklerose, Demenzen und weitere Störungen auf. Ein Beispiel ist die therapeutische Absenkung des Langzeitzuckerwertes beim Diabetiker durch die erfolgreiche Behandlung einer Parodontitis. Allgemeinmedizin und Zahnmedizin haben die Interaktion zwischen den Systemen wohl viel zu lange vernachlässigt.

Nachfolger von Dr. Mühlemann

Ein Pionier auf diesem Gebiet war Prof. Dr. Hans R. Mühlemann (1917–1997). Das vorliegende Werk ist von seinen drei Schülern, den Autoren, der Erinnerung an das Lebenswerk von Mühlemann gewidmet. Mühlemann war einer der überragenden Kliniker, Lehrer und Forscher zwischen Zahn- und Allgemeinmedizin im 20. Jahrhundert. Seinen Lehrauftrag an der Universität Zürich (1953) hat er früh breit interpretiert und die Verbindung zur Gesamtmedizin gesucht.
Das vorliegende Werk soll also den Bogen von den damaligen Erkenntnissen zu der heutigen Gewissheit spannen, dass die Mundgesundheit von der allgemeinen Gesundheit nicht zu trennen ist. Deshalb kommen im Detail die Interaktionen bei nicht übertragbaren Krankheiten, aber auch bei Autoimmunerkrankungen und neurodegenerativen Prozessen zur Sprache. Besonders hilfreich auch für die praktische Umsetzung sind die Komplexität vereinfachende Merksätze, «Keypoints» sowie eine reichhaltige Bebilderung durch instruktive Schemata.

Tipps für die Praxis

Von besonderem Interesse ist das Kapitel zur «angewandten oralen Präventivmedizin». Dabei geht es einerseits um deren klinischen Grundprinzipien, anderseits aber auch sehr konkret um lokale und systemische Massnahmen, die meist mit humanmedizinischen Massnahmen koordiniert werden sollen. Ein Beispiel ist die Indikation von Medikamenten, die durch ihre Nebenwirkungen den Speichelfluss versiegen lassen. Dazu gehören selbstverständlich klare Instruktionen für die häusliche Zahn- und Mundpflege, antimikrobielle Spüllösungen und Fluoridierungsmassnahmen. Für die Allgemeingesundheit ist dies besonders wichtig. So gibt es Unterkapitel über die Ernährungsprophylaxe – von Bedeutung für die Karies-, Erosions- und Entzündungsprophylaxe – sowie zur Tabakentwöhnung, einem vernachlässigten Faktor bezüglich oraler, aber auch allgemeiner Gesundheit. Dabei finden sich Richtlinien zur Nikotinsubstitution oder Ausführungen zu den Risiken der E-Zigaretten.
Das Potenzial, gerade im qualitativ hochstehenden schweizerischen Gesundheitswesen, ist gross. Für viele ist es üblich, einmal pro Jahr eine Dentalhygienikerin oder eine Prophylaxe-Assistentin zu besuchen oder einmal jährlich zur zahnärztlichen Kontrolle zu gehen. Zudem weist das Gesundheitswesen eine hohe Arztbesuchsdichte auf. Eine Untersuchung in 15 Ländern (Global Healthy Thinking Report, Oral Health Awareness Survey, Sunstar) hat allerdings gezeigt, dass nur 21% der Befragten den Zusammenhang zwischen einem gesunden Mund und einem gesunden Körper verstanden haben. Werden diese vielen Kontakte zur Bevölkerung sowohl in der Zahn- als auch in der Allgemeinmedizin adäquat genutzt, dann können entscheidende Beiträge zu einer weiteren Verbesserung der Volksgesundheit entstehen.
Dieses Buch spricht also eine breite Zielgruppe an: die Zahnärzteschaft, die Ärzteschaft ganz generell, aber auch Ernährungs- und Umweltfachleute sowie Entscheidungsträger in der Gesundheitspolitik.
René B. A. Sanderink, Heinz H. Renggli, Ulrich P. Saxer
Orale Präventivmedizin – Eine interdisziplinäre Herausforderung
Thieme, 2022.
Prof. em. Dr. Felix Gutzwiller