Schreiben als Mission: die Lehrbuchautorin Liliane Juchli

Porträt
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21373
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):70-71

Publiziert am 15.03.2023

Pflege als Berufung Eigentlich wollte Liliane Juchli als Missionsschwester auswandern. Stattdessen wurde sie Krankenpflegerin und verfasste mit dem «Juchli» das prägende Pflegelehrbuch ihrer Zeit. Mit dem sie ganz nebenbei auch das Pflegeverständnis revolutionierte.
Das Gewebe meines Lebens verändert sich. Nicht nur ich, sondern auch Menschen, die mich auf diesem Weg begleiten, wirken auf dieses Gewebe ein: Meine Seele nimmt eine Vielzahl von Botschaften auf – von innen und von aussen – und verwandelt sie in Bilder, Symbole, Träume … Manches ‘wächst mir entgegen’ und eine innere Stimme leitet mich: Ich kann nicht anders, muss hinhalten – innehalten – aushalten und das schwere Gewicht des Gewordenen zulassen, all das, was mich einholt und neu werden will.» [1] Diese Worte vertraute Liliane Juchli 1978 ihrem Tagebuch an, nachdem sie als Autorin der «Allgemeinen und speziellen Krankenpflege» bereits Berühmtheit erlangt hatte.
Das Lehrbuch entwickelte sich zum Steadyseller mit zahlreichen Übersetzungen – über 800 000 Mal wurde es verkauft. Und dennoch, inmitten einer grossen Karriere, erlebte die Autorin einen massiven Zusammenbruch. Wie kam es zu dieser Krise und was bewirkte sie in Liliane Juchli?

Von Klara zu Liliane

Als Klara Juchli kam sie 1933 mitten in der Wirtschaftskrise zur Welt. Sie wuchs in Nussbaumen im Kanton Aargau auf und musste mit dem Verkauf von Blumen, Pilzen und Tannenzapfen, später mit Zeitungaustragen und anderen Hilfsarbeiten zum Familieneinkommen beitragen. Schon früh hatte sie den Wunsch, Missionsschwester in Afrika oder Indien zu werden. Doch der Vater verbot ihr, in einen Orden einzutreten.
Da sie an ihrem Entschluss festhielt, musste sie die Zeit bis zu ihrer Volljährigkeit überbrücken. Sie wählte die Ausbildung zur Krankenschwester. Erst danach trat sie dem katholischen Orden der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz in Ingenbohl im Kanton Schwyz bei, der für die Krankenpflege in mehreren Spitälern zuständig war. Sie wählte den Namen Liliane.

Erster Entwurf eines Lehrbuchs

Liliane Juchli war nun Krankenschwester und Ordensschwester. Gehorsam war Teil ihres Gelöbnisses. So übernahm sie auf Geheiss ihres Ordens die klinische Ausbildung an der Krankenpflegeschule Theodosianum in Zürich und an anderen Orten, statt als Missionsschwester zu arbeiten. Sie war eine strenge Lehrerin. Keine ihrer Schülerinnen sollte durch die Prüfungen fallen, das hatte sie sich als ehrgeizige und pflichtbewusste Ordensfrau vorgenommen.
Da kein geeignetes Lehrbuch vorhanden war, nutzten die Lehrerinnen die Wandtafel, und die Schülerinnen schrieben und malten die Kreidevorlagen ab. Als erste Kopiermöglichkeiten aufkamen, wurden einzelne Blätter auf Alkoholmatrizen gedruckt und verteilt oder in Arbeitsheften zusammengefasst. Schliesslich kam die Idee auf, die Unterlagen in einem Ringordner zu sammeln. Liliane Juchli übernahm diese Aufgabe, und 1969 lag ein umfangreiches Manuskript vor.
Bei all ihrem Pflichtbewusstsein blieb für die eigenen Bedürfnisse kaum Zeit. Sogar als sie ihren Vater am Sterbebett besuchte, arbeitete sie weiter an der Lehrmittelsammlung. Sie nahm sich weder Zeit, seinen Tod zu verarbeiten, noch, sich von Krankheiten zu erholen, die ihre Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen drohten. Ab Herbst 1971 war sie gesundheitlich derart angeschlagen, dass ihre Vorgesetzten in Ingenbohl einem Erholungsurlaub in der Nähe von Rom zustimmten. Doch musste sie sich in stationäre Pflege begeben.

Aus dem Pflegealltag für den Pflegealltag

Inzwischen begann sich der Thieme-Verlag für das Material zu interessieren. Das Ziel war ein Lehrbuch aus dem Pflegealltag für den Pflegealltag, das im deutschsprachigen Gebiet noch weitgehend fehlte. Doch zwischen einer Loseblattsammlung und einem gedruckten Buch liegt ein weiter Weg.
Gemeinsam mit der Schulleiterin Schwester Fabiola Jung machte sich Liliane Juchli an die Arbeit. «Es schrieb sich wie von selbst. Ich brauchte nicht nach Inhalten zu suchen. Alles war in mir vorhanden und jederzeit abrufbar. Sogar der Aufbau der Kapitel gliederte sich wie von selbst», hielt sie rückblickend fest [1]. Die Illustrationen steuerte Schwester Beda Högger bei. Im Jahr 1973 erschien die erste gebundene Ausgabe unter dem Titel «Allgemeine und spezielle Krankenpflege. Ein Lehr- und Lernbuch». Sie umfasste über 800 Seiten. «Der Juchli» wurde zum Standardwerk.
Die Ordensschwester Liliane Juchli 1993.
© Liliane Juchli / Wikimedia commons

Krise als Inspiration

Nachdem sie die zweite Auflage vorbereitet hatte, übernahm Liliane Juchli 1974 die Leitung der Krankenpflegeschule am Claraspital in Basel. Doch nun erfolgte ein schwerer Zusammenbruch. Schwester Liliane konnte nicht mehr weiterarbeiten, erlebte ein Burn-out und nahm für mehrere Jahre psychiatrische Hilfe in Anspruch. So hart diese Zeit für sie war, so bildete sie doch die Basis für eine grundsätzliche Neuorientierung, die sich in ihrem Lebenswerk ausdrückte.
Blättert man die ersten drei Auflagen durch, so präsentiert sich der Lehrstoff für Pflegefachkräfte umfassend und modern. Juchli richtete den Aufbau des Werks am Pflegealltag aus, systematisierte das Wissen entsprechend und professionalisierte damit die Pflegewissenschaften. Wirklich neuartig, fast schon revolutionär aber kommt die vierte Auflage daher, die 1983 erschien und den Titel «Krankenpflege – Praxis und Theorie der Gesundheitsförderung und Pflege Kranker» trägt.
Liliane Juchli hatte ihre Krise überwunden, mehr noch, sie hatte durch die Krise zu neuen Einsichten gefunden. Statt der traditionellen Schwerpunkte auf Grundpflege, Behandlungspflege und Pflege bei Organerkrankungen orientierte sich die neue Auflage an den umfassenden Bedürfnissen der Menschen. Philosophie, Psychologie und auch Spiritualität gehörten zu einem ganzheitlichen Pflegeverständnis, das die Lebensqualität der beteiligten Kranken und Pflegenden reflektierte.

Wegbereiterin für ein neues Pflegeverständnis

Ohne ihre Krisen und deren Selbstreflexion hätte Liliane Juchli diesen Sprung nicht so überzeugend machen können. Sie hatte damit einen erheblichen Anteil am neuen Selbstverständnis der Pflege, verfasste weitere Werke, wurde zur gefragten Referentin im In- und Ausland und erhielt verschiedene Preise und Ehrungen. Schliesslich verlieh ihr die Theologische Fakultät der Universität Freiburg 1997 die Ehrendoktorwürde. Sie starb im Dezember 2020 im Alter von 87 Jahren.
Ihre besondere Stellung als Ordensschwester half Liliane Juchli sicherlich dabei, als Frau eine wichtige Persönlichkeit des schweizerischen Medizinbetriebs zu werden. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der produktive Eigensinn selbst im strengen Rahmen ihres Ordens. Und nicht zuletzt sind es gerade auch persönliche Krisen, das temporäre «Schwachsein», aus dem etwas Neues entsteht.

Frauen in der Medizin

Die Porträtserie stellt in lockerer Folge historische weibliche Persönlichkeiten aus dem medizinischen Umfeld der Schweiz vor. Jede dieser Frauen beschritt eigenwillig ihren Weg. Und nicht selten weisen ihre Geschichten erstaunliche Bezüge zur Gegenwart auf.
1 Unpubliziertes Tagebuch, zitiert in: Fellenberg-Bitzi T. Liliane Juchli – ein Leben für die Pflege. Thieme Stuttgart 2013.
Weiterführende Literatur
gsh-Innovationsteam (Hg.). Liliane Juchli. Ein Zeitdokument der Pflege. gsh-Verlag Dietzenbach 1998.