Folgt auf «smarter medicine» nun «smarter politics»?

Leitartikel
Ausgabe
2023/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21382
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(0102):24-25

Publiziert am 11.01.2023

Smarter politicsDie Kunst der Medizin bestehe darin, den Patienten so lange bei Laune zu halten, bis die Natur ihn geheilt hat. Was Voltaire überspitzt für die Medizin festhielt, trifft im Kern auch auf die Politik zu: Der Wähler erwartet Problemlösungen – Aktivismus dient ihm aber nicht.
Als vor zehn Jahren Ärztinnen und Ärzte in den USA die choosing-wisely-Initiative lancierten und die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin diese Idee zur smarter-medicine-Kampagne entwickelte, formulierten sie ein wichtiges Ziel: Medizinische Massnahmen sollten nur dann zur Anwendung kommen, wenn sie tatsächlich etwas bringen [1]. Die Einsicht, dass eine maximale Behandlung oft keine optimale Behandlung ist, wurde zum zentralen Leitsatz: «Weniger kann mehr sein.»
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH
Diese wichtige Handlungsmaxime hat in der Medizin bereits viele Veränderungen ausgelöst. In der Gesundheitspolitik ist sie noch nicht angekommen. Zwar richtet sich der Blick der Politik seit Jahren auf das vorhandene Effizienzpotenzial, aber nicht auf ihr eigenes. Obwohl die gesundheitspolitischen Vorstösse und das administrative Personal stark zunehmen und die Gesetzestexte stärker wachsen als die Gesundheitskosten, lässt die Reflexion auf sich warten: Bringen all diese Aktivitäten dem Gesundheitswesen tatsächlich einen Mehrwert? Oder schaden sie mitunter sogar? Könnte nicht auch hier weniger mehr sein?

Tendenz zum Aktivismus

Dabei läge es auf der Hand, dass sich die Politik von der Medizin inspirieren liesse, denn beide erleben ähnliche Herausforderungen. Von beiden erwarten Patienten oder Wähler Probleme zu lösen. Im besten Fall handelt es sich um Probleme, die sich – wie Voltaire meint – von allein lösen. Im schlechtesten Fall handelt es sich um Probleme, für die es keine Lösung gibt, die den Patienten, die Patientin oder die Wählerinnen und Wähler zufrieden stellt. Damit laufen Medizin wie Politik Gefahr auch dann Massnahmen zu ergreifen, wenn sie nichts nützen – einfach, weil sich Aktivität besser anfühlt und besser aussieht als Untätigkeit.
Das Wachstum der Gesundheitskosten pro Kopf geht kontinuierlich zurück. Eine Inflationsbereinigung würde den Trend zwar abschwächen, das sinkende Wachstum der Kosten pro Kopf bleibt aber bestehen.
© economiesuisse / Fridolin Marty
Dieses Verhalten ist als «action bias» bekannt und wird gerne am Beispiel eines Torhüters beim Penalty veranschaulicht: Obwohl der Ball mit gleicher Wahrscheinlichkeit rechts, links oder in der Mitte ins Tor trifft, wirft sich der Torhüter bevorzugt nach links oder rechts und bleibt nur selten in der Mitte stehen. So fühlt er sich aktiv und es ist weniger peinlich, «auf die falsche Seite zu hechten als wie ein Trottel stehen zu bleiben» während der Ball seitlich ins Tor geht [2].
Unser evolutionäres Erbe aus der Zeit der Säbelzahntiger lässt uns tendenziell zu häufig und zu oft handeln. Auch gesellschaftlich wird vor allem entschlossenes Handeln anerkannt – selbst wenn der Verzicht auf eine Massnahme die bessere Entscheidung gewesen wäre [2]. Dies erleben Ärztinnen und Ärzte, deren Patientinnen und Patienten eine Therapie erwarten genauso wie Politiker, die den Wählerinnen und Wählern ihre Leistungen aufzeigen müssen. Keiner von ihnen erhält Anerkennung, wenn er etwas unterlässt. Aber für beide kann Aktivismus bequemer sein, als einem Patienten oder Wähler zu sagen, dass eine Massnahme nichts nützen wird oder das gewünschte Ergebnis kaum erreichbar ist. Und auch hier ähneln sich Medizin und Politik: So wie ein Patient oft nicht vertieft beurteilen kann, ob eine medizinische Massnahme wirklich sinnvoll ist, kann auch ein Wähler bei komplexen Gesetzesvorlagen oft nur begrenzt einschätzen, ob sie einen echten Mehrwert bringt.

Ängste schüren und nutzen

Wer unseriös arbeitet, macht sich diese Informationsasymmetrie zu Nutze. Ein Arzt, der bei seinen Patienten Ängste vor schlimmen Erkrankungen schürt, um ihnen medizinische Massnahmen zu verkaufen, verstiesse gegen jede Berufsethik. Nicht viel anders handeln jedoch Politiker, die dem Stimmvolk einen «Systemkollaps» prophezeien – und dann mit den Sorgen der Menschen die Notwendigkeit der eigenen Massnahmen begründen. Wer das Gesundheitswesen regelmässig als «Notfallpatienten» auf der «Intensivstation» wähnt, obwohl es vielleicht nur etwas übergewichtig ist [3], provoziert politische Überbehandlung.
Auch politische «Therapien» sollten aber nicht unabhängig vom Zustand des Patienten erfolgen. So wurde etwa das ursprüngliche «Behandlungsziel» des Bundesrats, den jährlichen Kostenzuwachs «von 4,0 auf 3,3 Prozent und erst zu einem späteren Zeitpunkt auf 2,7 Prozent» [4] zu senken, bereits übertroffen. Trotzdem hält man an der geplanten riskanten und experimentellen Therapie fest: Die Politik verpasst ihrem Patienten ein teures Magenband mit hohen Komplikationsrisiken, obwohl seine Gewichtsreduktion auf gutem Wege ist.
Die Meinung, «dass a priori alles gemacht werden muss, was irgendwie möglich ist» [1] kann also nicht nur in der Medizin Schaden anrichten. Auch in der Politik besteht mitunter die Auffassung, dass auf jeden Fall «etwas» gemacht werden muss. Ein Problem ernst zu nehmen, darf sich in Medizin wie Politik aber nicht darauf beschränken seine Existenz zu betonen. Ein Problem ernst zu nehmen, heisst es gut zu analysieren und taugliche von untauglichen Lösungsvorschlägen zu unterscheiden: Choosing wisely!

Politische Indikationsqualität

Das Zauberwort heisst also Indikationsqualität: Auch politische Massnahmen sollten nur dann zur Anwendung kommen, wenn sie tatsächlich etwas bringen. Doch wie stellt man sicher, dass eine Intervention angemessen ist und mehr Nutzen als Nachteile bringt? Auch hier könnten sich smarter politics von smarter medicine inspirieren lassen:
Zentrale Basis einer erfolgreichen Therapie ist eine gute Arzt-Patienten-Beziehung. Nur wo die Expertise der Behandelten abgeholt wird, können Probleme gut erfasst und Massnahmen der Situation gerecht werden. Ähnlich sollte die Gesundheitspolitik die Expertise aus der medizinischen Praxis einbeziehen. Dies geht leider immer wieder vergessen, wenn etwa das BAG die zukünftige Gesundheitsversorgung plant ohne Praxiswissen einzubeziehen.
Das Schweizerische Milizparlament bietet eigentlich grosse Chancen für den Einbezug der Stakeholder. Praktisch bleiben den Akteuren des Gesundheitswesens in parlamentarischen Hearings aber nur drei Minuten zum Kommentieren komplexester Vorhaben. Dies erinnert an einen Patienten, der seine Situation samt Neben- und Wechselwirkungen diverser neuer Medikamente in drei Minuten darlegen soll, bevor ihm eine grosse Operation verordnet wird.
Ebenfalls zentral für Therapieerfolge ist das kritische Hinterfragen möglicher Massnahmen: Medikamente, die «Heilung» oder «Linderung» versprechen, lösen dies nicht zwangsläufig ein. Das gleiche gilt für Gesetze, auf denen «Kostendämpfung» oder «Qualitätsverbesserung» steht. Nicht nur Hersteller von Medikamenten verfolgen eigene Ziele – auch die Absender von Gesetzen zielen nicht automatisch und ausschliesslich aufs Patientenwohl.
Zudem müssen Therapien monitorisiert werden. Bringt eine Therapie keinen Nutzen oder schadet sogar mehr als sie nützt, wird sie abgebrochen. Hier hat die Politik Nachholbedarf: Gesetze und Verordnungen bleiben unabhängig von Nutzen und Schaden über lange Zeiträume bestehen und erfahren bestenfalls bei offensichtlichsten Problem, wie jüngst bei der Zulassungssteuerung, kleinere Schönheitskorrekturen.

Hohe Masstäbe

Die Medizin muss sich an hohen Massstäben messen lassen, weil das Wohlergehen der Patienten und Patientinnen direkt von ihr abhängt. Die Gesundheitspolitik sollte jedoch den gleichen Massstäben genügen, da sie die gesamte Patientenversorgung prägt. Seit der Lancierung von smarter medicine wurde eine Medizin mit Augenmass stark vorangetrieben. Medizinische Fachgesellschaften haben in 20 Listen Massnahmen benannt, die in der Regel unnötig sind. Die Einsicht, dass weniger mehr sein kann, hat sich durchgesetzt. In der Gesundheitspolitik gibt es noch keine Listen mit Gesetzen, die keinen Mehrwert bringen oder sogar Schäden verursachen. Dies wäre jedoch eine gute Grundlage für smarter politics – eine optimale statt maximale Politik, denn auch hier kann weniger mehr sein!
1 Siehe Webseite Smarter medicine www.smartermedicine.ch/de/home#c4565
2 Dobelli R. Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die sie besser anderen überlassen. 10. Auflage 2015; Deutscher Taschenbuch Verlag, München.
3 Tackenberg, M; Weber, N. (2019). Das Gesundheitswesen ist kein Notfallpatient. Interview mit den Gesundheitsökonomen Pius Gyger und Fridolin Marty. Swiss Dental Journal SSO; Vol 129/12, S.1061-1065.
4 Bericht der Expertengruppe, 24.8.2017. Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.