Zeichnen ist die beste Medizin

Coverstory
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21392
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):64-65

Publiziert am 15.02.2023

Porträt Als ANNA hat Anna Hartmann die Leserschaft der Schweizerischen Ärztezeitung jahrelang mit ihren Zeichnungen zum Schmunzeln und Nachdenken angeregt. Und das, obwohl sich die Medizinerin selbst gegen den Ärzteberuf entschieden hat. Oder vielleicht gerade deswegen?
Du isst bestimmt erst noch etwas, oder?» So begrüsst mich Anna Hartmann, bekannt als ANNA, in ihrer Wohnung in Basel. Es ist nicht das erste Mal, dass wir gemeinsam essen. Aber das erste Mal, dass ich sie im Anschluss daran interviewe. Entstanden ist der persönliche Kontakt, nachdem sie vor etwas mehr als einem Jahr ein Porträt von mir gezeichnet hatte. Einfach so. Eine echte Künstlerin, dachte ich damals. Und denke es wieder, als sie mir ihre Sammlung möglichst kitschiger Kristallvasen zeigt. Das üppigste Prachtexemplar ist verziert mit rosaroten Blümchen aus Plastikkristall. ANNA sieht die Kunst im Alltäglichen – in deformierten Ingwerknollen oder in Steinen ebenso wie in den Actionfiguren ihrer sieben Enkelkinder.
Dabei kennen die Leserinnen und Leser der SÄZ sie eher für ihren humorvoll-kritischen Blick auf die Medizin und vor allem auf die Menschen, die dahinterstehen: die Ärztinnen und Patienten. Fast wäre ANNA selbst Ärztin geworden, doch nach dem Medizinstudium an der Universität Basel hat sie sich fürs Zeichnen entschieden. «Ich war keine gute Studentin, das kannst du gleich als erstes schreiben», meint sie denn auch. Sie habe einfach lieber gezeichnet und das gemacht, «wofür die Leute applaudierten».

Nachtdienst im Spital

Man merkt gleich, dass sie ihren kritischen Blick auch auf sich selbst lenkt. Dabei würde niemand, der ANNA persönlich kennt, denken, dass sie ihre Karriere wegen der Lorbeeren gewählt hat. Zeichnen ist ihre Leidenschaft. Und ist es geblieben bis ins Alter. Auch mit 81 Jahren zeichnet sie weiter. Keine Selbstverständlichkeit, denn vor sieben Jahren wurde bei ihr Parkinson diagnostiziert. «Mein Mister P» nennt ANNA ihre Erkrankung und erklärt: «Es ist ein gutmütiger Parkinson, der sehr langsam voranschreitet. Ich habe auch keinen Tremor, ich kann ungehindert zeichnen.»
Die kreative Unordnung im Atelier in ihrer Wohnung zeugt von ihrer ungebrochenen Schaffenskraft. Doch das Chaos hat System: Angesprochen auf ihr Interesse an der Medizin zieht sie sofort ein Skizzenheft von 2002 hervor, in dem sie als Nachtwache einen sterbenden, bewusstlosen Patienten in 77 Skizzen festgehalten hat.
So begann ihr Interesse für die Medizin: «Schon als Schülerin hoffte ich, etwas vom Geheimnis des Lebens erfassen zu können, wenn ich Medizin studiere. Denn du erlebst Sterben und Gebären, den Anfang und das Ende des Lebens.» Doch die Freude am Zeichnen war letztlich stärker. Dennoch riet ihr ein Anatomieprofessor, das Studium durchzuziehen, denn als Frau Doktor habe ihre Meinung mehr Gewicht. Sie hat es getan, sieht sich aber trotz erfolgreicher Dissertation nicht als Frau Doktor. Mit der Entscheidung für die Kunst habe sie dieses Prestige hinter sich gelassen – ein Sprung in die Freiheit.
«Mister Parkinson und ich» nennt ANNA diese Zeichnung.

Den Körper zu Papier bringen

Trotzdem zieht sich die Medizin wie ein roter Faden durch viele ihrer Zeichnungen und durch ihren Weg als Künstlerin. Nach dem Studium machte sie eine praktische grafische Ausbildung bei der damaligen Hoffmann-La ​Roche als «Grafikerin mit Doktortitel», die bei medizinischen Themen weiss, wovon sie spricht. Äh, zeichnet. In den 1970er Jahren machte sich ANNA selbständig. Sie entwickelte eine Technik, mit der sie vor laufender Kamera auf eine Leinwand zeichnen konnte. Damit unterstützte sie das Schweizer Fernsehen bei medizinischen Inhalten. Stellte den Brustkorb dar, das Herz, die Lunge. Und sie arbeitete mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zusammen. «Ich bin einfach zum BAG und habe gesagt: Ich möchte einen Film über Verhütung von Aids machen.» So sind zwei gezeichnete Informationsvideos zum Thema Verhütung entstanden.
Die Selbständigkeit brachte noch einen weiteren Vorteil: Als sie und ihr Mann innerhalb von dreieinhalb Jahren vier Kinder bekamen, konnte sie von zuhause aus weiterarbeiten. Die Kinder durften mitzeichnen, wenn die Mutter im Atelier war. «Doch wehe, sie haben meine Zeichnung zerstört, indem sie am Tisch gerüttelt haben!» Die Familie lebte damals in Bern, wo der Mann von ANNA arbeitete. Später zog die Familie nach Basel.
Berufung statt Beruf: Anna Hartmann entschied sich nach dem Medizinstudium für die Kunst.

Name als Markenzeichen

Zu Bekanntheit verhalf ihr letztlich nicht der Doktortitel, sondern ein Namenswechsel: Erst unterschrieb sie ihre Zeichnungen mit Hartmann, dem Namen ihres Mannes. «Dann habe ich gedacht: Das klingt jetzt schon sehr unweiblich. Hart-Mann.» So sei sie zu ANNA geworden. Und ohne dass sie es geplant hatte, wurde das zu ihrem Markenzeichen.
Lange Zeit prangte das «ANNA» auch jede Woche unter der Zeichnung auf der letzten Seite der SÄZ. Erst vor einigen Jahren gesellten sich andere Karikaturistinnen und Karikaturisten dazu. Doch die Beiträge von ANNA blieben immer unverkennbar. Sie arbeitet mit möglichst wenigen bildlichen und thematischen Elementen und reduziert auf das Wesentliche. Das schaffe Klarheit, sagt sie, und könne bei «unguten» Themen die Diskussion entschärfen. Und «Ungutes» oder zumindest Herausforderndes gibt es so einiges im Gesundheitswesen, wenn man den Zeichnungen von ANNA glauben darf.
Dabei geht es ihr nicht darum, anklagend den Finger zu erheben. Sie will zum Denken anregen. «Ich mache eigentlich gar keine Karikaturen, sondern möglichst gut verständlich Zeichnungen. Und versuche, selbst etwas durch das Zeichnen herauszufinden.» Deshalb ist ihr auch wichtig, dass ihr Humor nie seicht oder ordinär wirkt, sondern tröstlich und aufmunternd. Sie will auch niemandem etwas vorschreiben. Dazu ist sie zu pragmatisch. «Man muss kein Menschenbild haben, das zu anspruchsvoll ist. Ich bin nicht so theoretisch eingestellt, dass ich finden würde, ein Arzt müsste drei Kilo Intelligenz und zwei Pfund Altruismus haben. Vielleicht hat er das halt nicht.» Sie höre von vielen, denen die Arbeit am Patientenbett verleidet sei – und ist doppelt froh, dass sie nicht als Ärztin gearbeitet hat.

Eine ganz eigene Medizin

Ob sie sich dennoch über die aktuellen Entwicklungen in der Medizin informiert? Nur noch zum Teil, sagt ANNA, und vor allem über Themen aus der Psychiatrie. Dieses Fachgebiet hatte sie im Studium am meisten interessiert. Stattdessen hat sie einen Weg eingeschlagen, auf dem sie die Menschen mit Stift und Papier analysiert. Sie tut das unprätentiös und doch praktiziert sie mit ihren Zeichnungen eine ganz eigene Art von Medizin. Denn auf die Frage, was ihre Zeichnungen bei den Menschen auslösen sollen, meint ANNA: «Seelische Schmerzfreiheit und Schmerzlinderung durch einen neuen Blick auf schwierige Situationen, wie ihn nur Humor bieten kann.»