Der schwierige Weg zu sich selbst

Coverstory
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21421
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(04):10-13

Publiziert am 25.01.2023

Transidentität Geschlechtsangleichende Operationen gelten nach wie vor als exotische Behandlungen in der Medizin. Das Thema ist stigmatisiert. Was helfen würde: wenn Ärzt:innen trans Menschen zuhören, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen.
Kommt eine trans Frau zum Arzt …»: Nein, solche Witze gibt es nicht. Dabei witzeln wir Menschen sonst über fast alles. Doch die Beziehung zwischen Ärzt:innen und trans Personen ist zu ernst, zu zerrüttet. Denn anstatt auf Verständnis und Fachkompetenz treffen trans Menschen bei Ärzt:innen zu häufig auf Unwissen, Unverständnis, Unsicherheit.
«Eines der Probleme liegt darin, dass viele Mediziner:innen den Gefühlen und dem Erleben von trans Menschen misstrauen», sagt David Garcia Nuñez, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel (USB). Das sei unverständlich, denn keine andere Patient:innengruppe müsse ihre Symptome beweisen, obwohl diese beispielsweise in der Psychiatrie vielfach schwierig zu bemessen sind. «Selbst wenn jemand sagen würde, er sei der König von England, würde das nicht negiert, sondern darauf eingegangen.»

Geschlechterspannungen

Dabei ist es nicht kompliziert: Bei trans Menschen stimmt das Aussehen nicht mit ihrer gefühlten Geschlechtsidentität überein. Dieser Widerspruch kann zu Spannungen führen, dann sprechen Garcia Nuñez und seine Fachkolleg:innen von Geschlechtsdysphorie. Diese hat körperliche und soziale Anteile. Symptome aufgrund der körperlichen Dysphorie können sein: Unbehagen gegenüber den eigenen Geschlechtsorganen oder anderen Körpermerkmalen, die einen als Mann oder Frau erkennbar machen, etwa die Gesichtsbehaarung oder die Stimme. Soziale Geschlechtsdysphorie wiederum entsteht dadurch, dass Betroffene von anderen Menschen stets anders gelesen werden, als sie selbst sind.

Trans Menschen: keine Einzelfälle

Laut Studien erachten sich rund fünf Prozent der Bevölkerung als «geschlechtsdivers» [1]. 0,5 Prozent der Menschen durchlaufen laut David Garcia Nuñez medizinische Transitionsmassnahmen. Auf die Schweiz hochgerechnet sind das rund 40 000 Menschen. Zum Vergleich: In der Schweiz gibt es rund 50 000 Bauernhöfe. Fast überall dort, wo man einen solchen sieht, könnte also auch eine trans Person stehen.
«In unserer Gesellschaft spielt das Geschlecht eine derart grosse Rolle, dass wir uns laufend für das eine oder andere entscheiden müssen», sagt Garcia Nuñez. So wird schon nur die WC-Frage zum Hindernis. Gehe ich dort, wo ich von aussen gesehen hinpasse oder dort, wo ich mich richtig fühle? «Aus solchen Situationen ergeben sich Mikroaggressionen, mit denen trans Personen immer wieder umgehen müssen», sagt der Psychotherapeut. Viele entwickeln psychische Begleitprobleme, etwa Depressionen oder Angststörungen – eine Folge der Geschlechtsspannungen, aber auch des Stigmas gegenüber trans Menschen in der Gesellschaft und in der Medizin.
Immer wieder fühlen sich trans Personen von Ärzt:innen missverstanden.
© Caroline Murphy

Unrühmliche Vergangenheit

Denn noch bis vor wenigen Jahren galt das Transsein an sich als krank. In den 1950er Jahren führte man dafür den Begriff Geschlechtsidentität ein: Weil die Geschlechtsidentität von trans Personen nicht mit ihren biologischen Merkmalen übereinstimmte, wurden sie als psychisch gestört erklärt. Betroffene, die eine Behandlung wünschten, mussten darum erst einmal ein Jahr zum Psychiater in die Therapie, in der Rolle ihres «gewünschten» Geschlechts. Das nannte man «den Alltagstest». Dabei sollten die Therapeut:innen den Wunsch zur Transition überprüfen und die trans Personen im Zweifelsfall quasi vor sich selbst retten. Erst danach verschrieb man allenfalls Hormone und ein weiteres Jahr später zog man einen chirurgischer Eingriff in Betracht. Umgekehrt gab es ohne den Wunsch nach einer Operation auch keine Hormone. Und: Wer vom Aussehen her nicht schon etwas passte, wem man also die Transition nach den Interventionen noch angesehen hätte, wurde im Behandlungsprogramm abgelehnt – und allein gelassen.
«Dieser wenn-schon-denn-schon-Ansatz war paradox, weil wir gerade in der Medizin sonst stark auf die individuellen Situationen und Bedürfnisse der Patient:innen eingehen», sagt Garcia Nuñez heute. Damals musste er als Assistenzarzt selbst Dinge tun, die er ausserordentlich bedauerte. Beispielsweise wurde einer von ihm begleiteten trans Frau die hormonelle Behandlung verwehrt, weil sie nachfolgend keine geschlechtsangleichende Operation wünschte – weil sie mit ihrem Leben sonst zufrieden war und auch eine gute Sexualität mit ihrer Lebenspartnerin hatte. «Wir produzieren keine Monster», urteilte die damalige Professorenrunde, wie Garcia Nuñez erzählt. Zu dieser Zeit hatte er nicht die Macht und Position, um das zu verhindern. «Am liebsten hätte ich aber gesagt: Ihr spinnt doch alle.»
Zusammen mit seinen Kolleg:innen fing er ab 2010 am Universitätsspital Zürich (USZ) und ab 2015 als Leiter der Geschlechtervarianz am USB an, diesen starren Ansatz aufzubrechen. Heute konzentriert sich das Verfahren auf die individuellen Geschlechterspannungen. Eine interdisziplinäre Fachgruppe erarbeitet zusammen mit den Betroffenen, wo deren Probleme und Bedürfnisse liegen, und legt einen medizinischen Transitionsplan fest. Mit dabei sind: die Dermatologie, die etwa für die Bartbehaarung zuständig ist; die Endokrinologie für die Hormongabe; die Logopädie für die Stimmbildung vor allem bei trans Frauen; schliesslich die Chirurgie, die Gynäkologie, die Urologie, die Psychologie und Psychiatrie. Zusätzlich kommen bei Fragen um die Familienplanung Kolleg:innen der Reproduktionsmedizin und bei inter Personen manchmal Genetiker:innen hinzu. Wichtig ist: Die Ärzt:innen entscheiden nicht mehr darüber, ob jemand eine Behandlung bekommt oder nicht. Die urteilsfähigen trans Personen entscheiden selbst – so wie in jedem anderen medizinischen Bereich auch.
Der Dialog mit trans Personen und die Weiterbildung öffnen Türen und neue Einblicke.
© Caroline Murphy

Immer mehr Behandlungen

Zwar wird auch heute häufig eine gewisse Abfolge bei den Behandlungen eingehalten, aber nur aus medizinischen Gründen. So sei etwa ein Brustaufbau bei einer trans Frau nicht sinnvoll, bevor sie nicht rund ein Jahr lang Östrogen genommen habe, sagt Matthias Waldner, Oberarzt und Teamleiter Plastische Chirurgie am USZ. «Das Hormon bewirkt, dass die Brust wächst, und diese Veränderung dauert seine Zeit. Erst danach können wir zusammen mit den Patientinnen einen Brustaufbau hin zum gewünschten Aussehen planen», erklärt er. Ansonsten unterscheiden sich die Eingriffe zum Brustaufbau bei trans Frauen sowie Brustentfernungen bei trans Männern nicht von Operationen an der Brust von cis Patientinnen, also Frauen, deren Geschlechtsidentität mit dem in ihrem Geburtsregister eingetragenen Geschlecht übereinstimmt.
Inzwischen führt Waldner jährlich über 100 Eingriffe an trans Personen durch, Tendenz steigend. Etwa 40-mal pro Jahr führt er eine Vaginoplastik durch, bei welcher die Penishaut eingestülpt und daraus eine Vagina geformt wird. Seit einigen Jahren operiert er nach der sogenannten Preecha-Technik, die schonender ist als frühere Methoden. «Inzwischen können wir das Ergebnis zuverlässig vorhersagen und allfällige Komplikationen gut behandeln», sagt Waldner. Und: Neun von zehn Patientinnen sind nach der Heilung orgasmusfähig. Deutlich seltener führt Waldner eine Phalloplastik durch, bei welcher aus den weiblichen Genitalien und aus Gewebe aus dem Unterarm ein Penis geformt wird. «Diese Operation ist komplex und häufig mit Komplikationen verbunden.» Aber auch hier haben die Chirurg:innen in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Zugenommen haben zudem plastische Eingriffe im Gesicht, vor allem bei trans Frauen. Viele wünschen sich eine weniger stark gewölbte Stirn, eine feinere Nase, ein weniger ausgeprägtes Kinn – ein Gesicht also, das als weiblicher wahrgenommen wird.
Auch am USB werden immer mehr trans Personen behandelt: Im Jahr 2015 waren es noch rund 50 Personen, 2021 schon mehr als 250. Von diesen liessen rund 130 auch eine Operation durchführen. Neben den Unispitälern Zürich und Basel betreuen auch das CHUV in Lausanne sowie einige niedergelassene Ärzt:innen trans Menschen.

Bleibendes Stigma

Mittlerweile haben sich nicht nur die Verfahren von den früheren Zwängen gelöst, die neue Sicht hat sich 2022 auch erstmals im revidierten ICD-11 verfestigt. Die vorherige «Störung der Geschlechtsidentität» wurde hinauskomplimentiert und dafür eine Kategorie eingelassen, die nicht mehr pathologisiert. «Ähnlich wie eine Schwangerschaft», erklärt Garcia Nuñez. «Das ist auch ein Gesundheitszustand, der Behandlung benötigt, aber keine Krankheit darstellt.»
Doch das Stigma durch die jahrzehntelange Pathologisierung wirke nach, sagt Marc Inderbinen. Er ist Psychologe und Peer-Berater bei der Beratungsstelle für trans Personen der Aids-Hilfe beider Basel. Ihm begegnet häufig, dass trans Personen befürchten, von Mediziner:innen be- und verurteilt zu werden. Nicht zu Unrecht: Fast wöchentlich erzählen ihm Klient:innen im Beratungsgespräch von Ärzt:innen, die sie nicht ernst genommen haben – oder schlicht überfordert waren. «Das muss sich ändern», sagt Inderbinen. «Auch Ärzt:innen, die keine Erfahrung mit dem Thema Trans haben, sollten ihre Verantwortung wahrnehmen und die Gefühle ihrer Patient:innen ernst nehmen, anstatt sie einfach wegzuschicken.» Sie könnten daran arbeiten, sich fehlendes Wissen anzueignen. Informationen gibt es etwa auf der Website und an Anlässen der Fachgruppe Trans.

Von Vorurteilen zum Dialog

Auch David Garcia Nuñez erlebt häufig, dass Hausärzt:innen und Psychiater:innen mit Scheu oder gar Unwillen auf das Thema reagieren. Erst kürzlich bekam er eine Zuweisung von einem Kinder- und Jugendpsychiater, der offen bekannte, keine Lust zu haben, sich mit der Transgender-Thematik seines jungen Patienten zu befassen. «So etwas ist unerhört», findet Garcia Nuñez. Die Wende in der Fachwelt sei wichtig, aber diese müssten nun alle Ärzt:innen mitgehen, fordert der Spezialist. Dazu müssten sie sich von der Idee verabschieden, trans Menschen seien Einzelfälle, die ausschliesslich an Universitätsspitälern behandelt werden. Unter anderem wünschte er sich, dass Hormone für trans Personen auch vermehrt von Hausärzt:innen verschrieben würden. So würde die Behandlung schneller und einfacher.
Bedingung dafür sei allerdings, sagt Garcia Nuñez, dass Medizin und Gesellschaft anfingen, verschiedene Schattierungen zwischen den Geschlechtern zu akzeptieren. Er empfiehlt Ärzt:innen und Therapeut:innen, trans Menschen einfach mal ruhig zuzuhören, ohne sie reflexartig ins männliche oder weibliche Geschlecht pressen zu wollen. «Die Vorstellung, dass trans Menschen nach einer Behandlung wieder nahtlos in die traditionelle Geschlechterordnung passen sollten, übt auch heute noch einen wahnsinnigen Druck auf sie aus.»
Das bestätigt Marc Inderbinen: «Die Angst, nach einer Operation diskriminiert oder gar angegriffen zu werden, weil sie dann nicht mehr eindeutig wie eine Frau oder ein Mann aussehen, ist bei vielen sehr präsent.» Der Peer-Berater wünschte sich zudem, dass trans Menschen vermehrt in das medizinische Vorgehen miteinbezogen würden, etwa in Sounding Boards. «Dieser Dialog würde helfen, trans Personen die Angst vor dem Stigma durch Ärzt:innen zu nehmen.» Eine weitere Lücke gilt es in der medizinischen Ausbildung zu stopfen. Denn bisher ist die Trans-Thematik darin kaum Thema: In Basel hören die Studierenden dazu zwei Stunden Vorlesung in sechs Jahren, in Zürich eine Stunde – viel zu wenig.
Nach wie vor darf es also nicht verwundern, dass viele trans Menschen gegenüber Mediziner:innen vor allem Skepsis und Angst verspüren. «Wir versuchen, ein Rettungshafen zu sein», sagt David Garcia Nuñez – und wünscht sich, dass es in der Medizin noch viel mehr solch sichere Häfen für trans Personen gäbe. Nur so können alle Beteiligten vielleicht irgendwann sogar über die Vergangenheit lachen.

Schreibweisen in diesem Artikel

Wir haben uns entschieden, in diesem Artikel eine andere Schreibweise zu verwenden, als wir es für gewöhnlich tun. Das klein geschriebene «trans» ist die bevorzugte Schreibweise der trans Community. Im Vergleich zum Substantiv Transmenschen ist diese Schreibweise weniger ein Label, sondern ein gewöhnliches Adjektiv. Die Schreibweise ist laut Duden sprachlich korrekt. Zudem nutzen wir in diesem Beitrag den Genderdoppelpunkt, um auch nichtbinäre Personen typografisch sichtbar zu machen.
Lesen Sie auch die beiden Artikel zum Thema im Swiss Medical Forum ab den Seiten 40 und 46.